Traunstein:Verzweifelte Mutter wollte sich und ihre behinderte Tochter töten

Traunstein: Die angeklagte Mutter wurde zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt.

Die angeklagte Mutter wurde zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt.

(Foto: Matthias Köpf)

Doch der Versuch ging fehl. Vor Gericht spricht alles dafür, dass beide darüber sehr froh sind.

Von Matthias Köpf, Traunstein

Irgendwann sah sie einfach keinen anderen Ausweg mehr. Nur noch diesen einen, den letzten. Aber was sollte dann aus der behinderten Tochter werden? "Lass mich nicht allein", hatte die gesagt.

Also nahm sie ihre Tochter mit, im Auto auf dem Beifahrersitz, den Rollstuhl im Kofferraum. Mit in den Tod, in dem sie dann beide nicht angekommen sind. Auch dem Lastwagenfahrer, in dessen Sattelzug die Frau ihr Auto auf freier Strecke nahe dem oberbayerischen Ort Teisendorf gesteuert hat, ist nichts weiter passiert.

Am Dienstag hat nun das Landgericht Traunstein die inzwischen 81-jährige Mutter zu einem Jahr und neun Monaten Haft auf Bewährung wegen versuchten Totschlags ihrer 45 Jahre alten Tochter verurteilt. Das Leben geht weiter, für Mutter und Tochter, gemeinsam. Das Jahr seit dem Unfall war für beide wohl das beste seit Langem.

Während die Schwurgerichtskammer über ihr Urteil berät, streicht vor dem Saal die Mutter ihrer Tochter sanft Krümel von den Knien, die außer ihr dort niemand gesehen hätte. Auch der Staatsanwalt hat nur zwei Jahre auf Bewährung gefordert. Bei dem Lastwagenfahrer hat sie sich entschuldigt, auch das nicht mit großer Geste oder großen Worten, nicht angeschoben vom Anwalt und auf Wirkung kalkuliert.

Monate im Koma, in Krankenhäusern und Rehakliniken

Sie ist nur kurz aufgestanden, als er an ihr vorbeigegangen ist, und viel größer als im Sitzen ist sie dann auch nicht. Die Tochter brauchte ihre Mutter erst, wie Töchter ihre Mütter eben brauchen. Doch seit diesem ersten Autounfall im Winter 1988, seit diesen schwersten Hirnverletzungen, braucht sie ihre Mutter noch viel mehr.

Seit den Monaten im Koma, in Krankenhäusern und Rehakliniken, im Rollstuhl, mit den spastischen Lähmungen und den epileptischen Anfällen. Die Mutter verstand und versteht als einzige immer gleich, was sie sagen will. Sie tat alles für ihre Tochter, was nötig war, und von dem, was schön war, tat sie, so viel sie eben konnte.

Selbst hat sie sich in all den Jahren nur einmal eine Busreise nach Ungarn gegönnt, als es schon einmal fast nicht mehr gegangen wäre. Und über dieses ganze Vierteljahrhundert hinweg braucht sie ihre Tochter längst genau so sehr wie andersherum. So beschreiben es die beiden Söhne, der Gutachter nennt es "symbiotische Beziehung".

Der Vater hat anfangs daheim in der Doppelhaushälfte das getan, was eben sein musste, und dann immer weniger. So sagt es die Familie vor Gericht. In den vergangenen paar Jahren habe er sich nur noch zum Essen vom Sofa erhoben - und seit die Demenz bei ihm langsam fortschritt, auch regelmäßig zum Anschreien und zum Bezichtigen, zum Drohen und zum Ausholen mit den Fäusten.

Am liebsten würde sie aufs Gleis gehen

Einmal habe die Tochter mit dem Rollstuhl dazwischenfahren müssen, damit er die Mutter nicht die Kellertreppe hinunterstößt. So lässt es sich aus den Aussagen der Familie heraushören, aber allzu viel und gern geredet wurde über all das auch untereinander offenbar nie.

Erst als der Vater zum zweiten Mal in Gegenwart eines Sohnes ausgerastet ist, zog der die Konsequenzen und organisierte seiner Schwester fürs erste und vorübergehend einen Platz in einem Heim.

Die Mutter konnte auch einige Wochen dort bleiben, doch der Tag rückte näher, an dem die Tochter auf Dauer in ein anderes Pflegeheim ziehen sollte - und an dem die Mutter endgültig nicht mehr wissen würde, wohin. Am liebsten würde sie aufs Gleis gehen, hat sie in den Wochen gesagt, aber ernst genommen haben es die Söhne nicht.

Was sie sich da genau gedacht habe, das wisse sie nicht mehr, sagt die Frau vor Gericht, nur dass es ihr dauernd im Kopf herumgegangen sei, Tage und Nächte lang, ohne Schlaf. Dann eben dieser vermeintliche Ausweg, der letzte, scheinbar einzige.

Der tyrannische Mann und Vater lebt inzwischen selbst in einem Pflegeheim

Die ahnungslose Tochter hat ihren Gurt angelegt, wie immer seit dem ersten Unfall. Doch sie selbst hat sich nicht angeschnallt. Unterwegs Ausschau gehalten nach einer Gelegenheit, nach einem großen Laster, möglichst sicher für den Fahrer, ein sicherer Tod für sie beide.

Dann der Tanklastzug, sie zieht das Auto nach links, doch der Fahrer reagiert schnell, weicht nach rechts aus, hart am Straßengraben entlang. Nur weil der Laster auch noch ein bisschen zu schnell dran war, verfehlt der Kombi die Front des Sattelschleppers, prallt am hinteren Reifen der Zugmaschine ab und kracht dann in den Auflieger, sagt der Unfallgutachter.

Die Airbags lösen aus, Schnittwunden, Prellungen, eine blutende Platzwunde am Kopf der Tochter. Ein erster anderer Autofahrer kommt hinzu, will reden, bis der Rettungsdienst kommt, spürt die tiefe Verzweiflung bei der Älteren, die ihr Gesicht in die Hände birgt. Wo wolltet ihr denn hin? "In den Tod." Der Notarzt aus dem Rettungshubschrauber erinnert sich an diesen Satz: "Eigentlich sollten wir tot sein."

Doch sie leben, und ein Jahr später vor Gericht spricht alles dafür, dass sie sehr froh darüber sind. Der tyrannische Mann und Vater lebt inzwischen selbst in einem Pflegeheim, Mutter und Tochter wohnen zusammen in einem Appartement in einer Einrichtung für betreutes Wohnen.

Das Gericht zweifelt. Muss man der Tochter wirklich eine Aussage abverlangen? Doch sie will selbst, der Bruder und die Mutter helfen beim Verstehen: keine hohe Strafe bitte. "Wir machen das schon", sagt der Vorsitzende. Zwei Leben gehen weiter.

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