Auftritte hat der Mann eigentlich nie gescheut. Nicht als leidenschaftlicher Hobby-Musiker und auch nicht in seinem ehemaligen Beruf als katholischer Gemeindereferent. Wenn etwa mal wieder etwas gesegnet werden musste, wenn er mit der Ministrantenband auf der Bühne stand oder auch im weißen Gewand des Geistlichen am Altar beim Wortgottesdienst. Bei diesem Auftritt im Landgericht im oberbayerischen Traunstein dagegen ist der mittlerweile 37-Jährige dunkel gekleidet, er hat den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, ein weit unter die Baseballkappe gezogenes Halstuch verdeckt den Kopf, ein Mundschutz verbirgt das Gesicht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm aus seiner Zeit als Jugendseelsorger in einer Rosenheimer Pfarrgemeinde sexuellen Missbrauch einer Schutzbefohlenen vor, später soll er die junge Frau laut Anklage zweimal vergewaltigt haben.
Bei Fällen wie diesen scheint immer auch die Kirche auf der Anklagebank zu sitzen, die ihr Personal so lange Zeit streng geschützt hat gegen alle Missbrauchsvorwürfe und vor weltlicher Strafverfolgung. Vieles ist strafrechtlich längst verjährt, weshalb genau hier im Landgericht Traunstein im Juni dieses Jahres nur die Zivilklage eines mutmaßlichen Missbrauchsopfers verhandelt werden kann. Der einstige Ministrant kann höchstens noch Schadenersatz bekommen von seinem früheren Pfarrer und von dessen einstigen Vorgesetzen im Erzbistum München und Freising, darunter vom emeritierten Papst Benedikt XVI. oder jetzt nach dessen Tod von seinen eventuellen Erben.
Die junge Frau aus Rosenheim, deren Vergewaltigung in einem Fall der ehemalige Gemeindereferent vor Gericht zugibt, hat sich 2020 zunächst an eine der "Unabhängigen Ansprechpersonen" gewandt, die das Erzbistum inzwischen für solche Fälle benannt hat. Der Beginn der Geschichte lag da schon eine Weile zurück. Im Schuljahr 2015/2016 hatte der jetzige Angeklagte als Jugendseelsorger angeboten, der damals 16-Jährigen zu helfen, die schon seit Jahren unter Depressionen litt. Man traf sich im Bandraum der Pfarrei oder zum Spazierengehen, und irgendwann wurde daraus eine sexuelle Beziehung. Dass die junge Frau dem bereits damals und noch heute verheirateten Seelsorger dabei schutzbefohlen und im streng juristischen Sinn anvertraut gewesen sein könnte, wie es die Anklage nahelegt, daran zweifelt die Jugendschutzkammer des Landgerichts allerdings erklärtermaßen. Und später, als sie ihm bei der Ferienfreizeit und der Gruppenreise tatsächlich anvertraut war, habe der intime Kontakt ja schon bestanden.
Weil die Erinnerungen des Opfers an eine eventuelle zweite Vergewaltigung medikamentenbedingt mehr als vage sind, kommen die Kammer, der Verteidiger, der Staatsanwalt und auch der Anwalt des Opfers gleich zu Beginn des Prozesses in einem Rechtsgespräch hinter verschlossenen Türen zu dem gemeinsamen Schluss, alle anderen Vorwürfe fallen zu lassen und sich auf eine Vergewaltigung in einem Münchner Hotel zu konzentrieren. Die geschah zwei Jahre nachdem die junge Frau sich ihren Eltern offenbart und der Gemeindereferent die Pfarrei und später auch das Bistum gewechselt hatte. Die Beziehung jedoch nahmen beide wieder auf. Was ihr in jenem Hotelzimmer passieren sollte, hatte der Angeklagte der inzwischen volljährigen Studentin offenbar zuvor per Handy-Chat angekündigt. Sie aber habe geglaubt, dass es vielleicht nicht so schlimm kommen werde. So berichtet es die psychologische Sachverständige aus ihrem Gespräch mit der Frau.
Das Opfer, das wegen eines Klinikaufenthalts und attestierter Verhandlungsunfähigkeit nicht zum Prozess gekommen ist, muss selbst nicht aussagen, denn der Angeklagte nimmt den Deal der Juristen aus dem Rechtsgespräch an. Er gesteht die eine Vergewaltigung, zahlt der Frau 10 000 Euro Täter-Opfer-Ausgleich und versichert überdies, dass ihm alles "wahnsinnig leid" tue. Im Gegenzug darf er nach dem Ausblick der Vorsitzenden Richterin auf das Urteil mit eineinhalb bis zwei Jahren Haft rechnen und vor allem damit, dass diese Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
Tatsächlich schon bewährt haben sich zumindest in diesem Fall offenbar die Abläufe auf Seiten der Kirche. Sollte ein Opfer, das sich ihm offenbart, selbst keine Anzeige erstatten wollen, so verlangt das Erzbistum München und Freising die ausdrückliche Versicherung, dass es die Tat ebenfalls nicht anzeigen soll. Dieser Fall aber ging an die Staatsanwaltschaft und nun vor Gericht. Zugleich hielt die Erzdiözese jenes bayerische Bistum auf dem Laufenden, in dem der Gemeindereferent inzwischen tätig war und das ihn zunächst freigestellt und ihm dann gekündigt hat. Das Landgericht will sein Urteil in der kommende Woche verkünden.