Traumatisierter Lokführer:Ein dumpfer Schlag, dann wurde es still

Das Leben von Lokomotivführer Bernd Loska ist aus den Fugen geraten, seit er einen Mann überfahren hat. Immer wieder sieht er die schrecklichen Bilder vor sich - und grübelt, warum Menschen sich vor einen Zug werfen.

Von Frank Schwede

Der Mann sitzt an einem schweren Eichentisch in seiner Wohnung am Stadtrand von München. Er hat seinen Laptop aufgeklappt und den Begriff "Schlafstörungen" in die Suchmaske eingegeben. Nachts ist er meist wach, seit eineinhalb Jahren. Der Psychologe meint, das würde sich mit der Zeit geben, besser werden. Doch die Zeit hat bisher keine Wunde geheilt.

Seit diesem verfluchten Dienstag rechnet er in zwei Zeiteinheiten: die vor und die nach dem Unglück. Bis März 2012 war Bernd Loska ein Mensch, der das Leben geliebt hat. Oft war er mit dem Mountainbike in den Bergen unterwegs, hat sich nach Feierabend mit Freunden getroffen oder ist an die Nordsee in den Urlaub gefahren. Er senkt den Kopf, formt die Hände zu einem Dreieck, hält sie vor die Augen und sagt: "Ja, das war in meinem anderen Leben."

Er stellt zwei Bedingungen für das Gespräch: keinen Namen, kein Foto. Er begründet das so: "Posttraumatische Belastungsstörung, das klingt nicht nur wie ein Monster. Das ist eins. Eins, das du nicht mehr loswirst, das du ein ganzes Leben auf dem Buckel hast, das du mit dir herumschleppst, wie einen Sack Zement." Wir einigen uns auf den Namen Bernd Loska.

Für ihn war es Gewissheit: Ich habe einen Mann getötet

Nachts ist er meistens online. Tauscht sich in einschlägigen Foren mit anderen aus, die gleiche Erfahrungen gemacht haben. Loska sortiert und versucht Ordnung in seinen Kopf zu bekommen. An guten Tagen gelingt es ihm, an schlechten eben nicht. Heute ist ein schlechter Tag.

Es geschah an einem Tag im März 2012. Ein schöner, sonniger Frühlingstag. Loska erinnert sich noch genau daran. Denn seit diesem Tag ist er gefangen in einer Blase der Erinnerung. Mit all ihren schrecklichen Bildern. Bilder von abgetrennten Gliedmaßen, Eingeweide, die verstreut im Schotter des Schienenbetts liegen. Die Meldung im Verkehrsfunk war kurz und knapp. Streckensperrung wegen eines Notarzteinsatzes. In den örtlichen Tageszeitungen stand keine einzige Zeile über den Unfall auf der Bahnstrecke zwischen München und Nürnberg. Nur Loska und die Einsatzkräfte wussten, was an jenem Dienstag wirklich geschah.

Für ihn war es die schreckliche Gewissheit: Ich habe einen Mann getötet. Überfahren mit der Lok, 75 Tonnen Stahl gegen 80 Kilo Mensch. Auf einmal war er da. Zeigte kurz sein Gesicht durch die Windschutzscheibe der Lok und verschwand. Loska sieht die Szene immer wieder im Zeitlupentempo. "Ich springe auf, reiße am Bremshebel, ein dumpfer Schlag, ein Knacken, als die Lok den Körper trifft, ich zittere wie Espenlaub, als die Regionalbahn nach rund 150 Metern zum Stehen kommt. Ich gebe den Notruf durch, dabei umklammert meine rechte Hand noch immer den Bremshebel, sie scheint wie festgeklebt. Und dann Totenstille."

Eine, vielleicht zwei Sekunden. Sekunden, die sein Leben verändern sollten. Vielleicht für immer. Niemand weiß das. Es sind Fragen, die wie Nadeln in der Seele bohren: "Hatte ich eine Chance? Vielleicht hätte ich schneller reagieren müssen. Vielleicht hat auch die Bremse zu spät reagiert."

Niemand gibt ihm die Schuld

Niemand gibt Bernd Loska die Schuld an dem Unglück. Weder sein Arbeitgeber noch die Kripo oder Staatsanwaltschaft. Doch Loska plagen Zweifel. Er springt auf und holt einen grünen Leitzordner aus dem Regal. Darin hat er fleißig gesammelt: Zeitungsartikel über Unfälle auf der Schiene, Fachberichte über die posttraumatische Belastungsstörung. Warum sich Menschen auf der Schiene töten. Seit diesem Tag ist Loska zu einem Suchenden geworden. Einer, der nach Antworten sucht und hofft, sie zu finden.

Nie ist ihm etwas passiert auf der Strecke. "Der liebe Gott hat es immer gut mit mir gemeint", sagt Loska. Er dachte immer, Suizid auf der Schiene, das trifft nur die anderen, nicht mich. Dann hat es ihn doch getroffen. Loska wollte mehr über den Unbekannten auf dem Gleis wissen. Er hoffte, so besser verstehen zu können, was im Kopf eines solchen Menschen vorgeht. Loska erfährt, dass es sich um einen 30-Jährigen aus der näheren Umgebung gehandelt hat. Er erfährt auch, dass er seit Längerem arbeitslos war und alleine gelebt hat. Gerne hätte Loska gewusst, ob er Angehörige hatte. Und wie gerne hätte er denen gesagt, wie leid ihm das Ganze tut. Das mag kitschig klingen, aber darauf kommt es ja nicht an. Menschen, die Selbstmord begehen, fühlen sich oft alleingelassen. Sie haben eben niemanden, der ihnen zuhört und wirklich mit ihnen fühlt. Bis es zur Explosion kommt.

Loska war Lokführer aus Leidenschaft

Loska ist vor zehn Jahren nach Bayern gezogen. Bayern hat ihn schon als Kind fasziniert. Tradition, Oktoberfest, Bier, Berge. Loska lebt allein. Keine Frau, keine Kinder. Seine Eltern sind in Hamburg geblieben. Sie stehen ihm bei, so gut es geht. Sie sehen und spüren, dass ihrem Sohn der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Also haben sie ihm angeboten, wieder bei ihnen einzuziehen. Zumindest vorübergehend. Doch Loska hat abgelehnt. Er sagt: "Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du hältst das aus oder nicht." Er macht eine Pause, schluckt und fügt leise hinzu: "Der Mensch hält aber manchmal mehr aus als man denkt. Ich muss mein Leben wieder auf die Reihe kriegen."

Loska war Lokführer aus Leidenschaft. Einer, der für seinen Beruf gelebt hat. Als er sechs Jahre alt war, hat er von seinem Großvater eine Modelleisenbahn geschenkt gekriegt, Spur N. Die Eisenbahn hat er über alles geliebt. Besonders die Lokomotiven hatten es ihm angetan. Er konnte sich stundenlang damit beschäftigen. Loska ließ dann Personen- und Güterzüge durch die heile Miniaturlandschaft kurven. Nach der Schule begann er eine Ausbildung bei der Bahn zum Lokführer. Erst Rangierlok, dann E-Lok, S-Bahn, zuletzt ICE. Das ganze Programm eben.

Kein Platz für eine Familie

Er hat Stahlmassen mit 20.000 PS und Loks mit einem Gewicht von 80 Tonnen gele nkt. Er ist mit 250 Sachen durch den Landrücken von Fulda gejagt. Elf Kilometer sind das, in rund zwei Minuten. Fast wöchentlich nach Hamburg an die Elbe oder in die Bundeshauptstadt. Über zwanzig Jahre verbrachte er die meiste Zeit im Führerstand einer Lok. Platz für eine Familie war in diesem Leben nie. "Da musst du dich entscheiden. Beruf oder Familie", sagt er ein wenig resigniert. Loska hat sich für den Beruf entschieden. Und jetzt? Jetzt wünscht er sich oft eine Frau. Eine, die ihn wieder aufbaut. Ihm Mut macht und sagt, wird schon wieder, wirst schon sehen.

Seit dem Unglück ist Loska arbeitslos. Bei der Bahn hat er gekündigt. Nie wieder im Führerstand einer Lok stehen, das hat er sich damals geschworen. Diesen Schwur hat er bis heute nicht gebrochen. Viele seiner Kollegen haben einfach hingeschmissen, nachdem ihnen so etwas passiert ist. Andere fahren weiter, werden mit den Bildern im Kopf nicht fertig oder blenden sie einfach aus. Manche von denen hat es schon dreimal erwischt und sie machen einfach weiter.

Ein Lokführer überfährt im Schnitt drei Menschen

Loska vertreibt sich die Zeit mit Spaziergängen und Radfahren. Er ist in psychotherapeutischer Behandlung. Er würde gerne wieder arbeiten. Nur was? Im Jobcenter macht man ihm wenig Hoffnung. Mit 45 Jahren und einer posttraumatischen Belastungsstörung ist die Chance gleich null, sagt sein Betreuer von der Agentur für Arbeit.

Heute bereut Loska seine voreilige Kündigung bei der Bahn. Einen anderen Job hätte er damals bekommen können. Im Büro oder am Fahrkartenschalter. Auch einen Job als Schaffner hat man ihm angeboten, doch er wollte nicht. Er wollte nur schnell weg von dem Ort, der sein Leben von einer auf die andere Sekunde kaputt gemacht hat. "Da nimmt man dann auch Hartz IV in Kauf", sagt er. Loska hat sich seit dem Unglück viel mit dem Thema Suizid befasst. Er hat viele Bücher gelesen, war viel im Internet unterwegs und hat Zahlen gesammelt. Diese Zahlen lassen ihn seither nicht mehr los.

Er zieht wieder einen dieser Zettel aus dem dicken Leitzordner. Einen fein säuberlichen Computerausdruck. Auf dem steht zu lesen, dass sich jährlich etwa tausend Menschen vor einen Zug werfen, so wie 2009 der Torwart Robert Enke von Hannover 96. Männer tun es häufiger als Frauen, junge häufiger als ältere. Vorzugsweise montags oder dienstags. Über jedes kleine Detail führt die Deutsche Bahn AG genau Buch. Sie weiß auch, dass ein Lokführer in seinem Berufsleben im Schnitt drei Menschen überfährt. Bahnintern wird der Schienensuizid als Personenunfall (PU) geführt. Dazu zählen aber auch Unfälle, die eine andere Ursache haben, wie etwa verbotenes Betreten der Gleise.

Loska tippt sich bei diesen Zahlen an die Stirn. "Warum ausgerechnet auf der Schiene? Warum machen sie das nicht woanders? Mit Tabletten oder so." Loska findet keine Antwort auf all die vielen Fragen. Manchmal stehen auch Wissenschaftler vor einem Rätsel. Viele werten den Schienensuizid als erweiterten Suizid. Diese Menschen betrachten ihr Leben als zerstört und wollen in gewisser Weise weitere Leben zerstören - das Leben von Lokführern, Reisenden, Rettungskräften. All die Menschen, die diese schrecklichen Bilder ein Leben lang mit sich herumschleppen müssen.

Andere sehen in dem Tod auf der Schiene ein schnelles Ende. In vielen Fällen ist es auch eine Kurzschlussreaktion, die sich in Bruchteilen von Sekunden in den Köpfen dieser Selbstmörder in Gang setzt. Ein Selbstläufer, der nicht mehr zu stoppen ist. Auch in der Literatur hat der Tod auf der Schiene ein Kapitel. In Leo Tolstois Roman Anna Karenina etwa, findet die Titelfigur den Tod zwischen den Rädern eines vorbeifahrenden Zuges.

Bernd Loska mag das nur wenig trösten. Sein Leben ist seit diesem Dienstag im März 2012 ein anderes. Dass es einmal wieder so unbeschwert werden könnte, wie es einmal war, daran glaubt Bernd Loska nicht mehr.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbsttötungen zu berichten. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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