Süddeutsche Zeitung

Transsexualität:Unser Pfarrer heißt jetzt Dorothea

Andreas Zwölfer hat sich mit 49 "offenbart", wie er sagt: Er fühlt als Frau. Nun will er sein Geschlecht leben, Hormone nimmt er schon, später will er sich operieren lassen. Die evangelische Kirche unterstützt ihn, seine Ehefrau auch. Beim Kaffee beantwortet er Fragen seiner Gemeindemitglieder.

Von Wolfgang Wittl

Der Tisch im Ergoldsbacher Gemeinderaum ist festlich gedeckt: Kerzen und Blumen sind akkurat aufgereiht, es duftet nach Kaffee. Mohnkuchen und Donauwellen warten darauf, endlich verzehrt zu werden. Frau Ganslmeier hatte vor acht Tagen Geburtstag, doch die Hauptperson ist eine andere, und niemand weiß, ob sie an diesem Gemeindenachmittag teilnimmt. Wird er heute kommen? Wird sie kommen? Tja, welche Anrede ist jetzt überhaupt die richtige?

Ungeheuerliches ist in der evangelischen Kirchengemeinde zu Neufahrn geschehen. Vor ein paar Tagen hat sich ihr Pfarrer Andreas Zwölfer in aller Öffentlichkeit hingestellt und gesagt, dass er sein Leben fortan als Frau fortsetzen will.

Transsexuell.

Seitdem dieses Wort raus ist, hat der Gesprächsbedarf in dem niederbayerischen Dorf rapide zugenommen. Mancher will nun auf einmal schon länger gewusst haben, dass mit ihrem Pfarrer etwas nicht stimmt. Manche sind schockiert, die meisten einfach nur überrascht.

Es ist kurz nach halb drei, als Zwölfer den Raum betritt. Schulterlanges, gelocktes Haar, dottergelber Pulli, enge Jeans, Wildlederstiefel, graue Strickjacke. Würde da nicht eine Handtasche an der Schulter baumeln, Zwölfer könnte auch als grüner Fundi der frühen Achtziger durchgehen.

Jeder einzelne Gast wird freundlich mit Handschlag begrüßt. Zwölfer spricht das Bibelwort. "Fürchte dich nicht", lautet ein Satz aus der Tageslosung. Ein weiterer: "Was kann mir ein Mensch tun?" Es sind symbolische Worte. "Sie alle haben mitbekommen, dass ich mich offenbart habe", beginnt Zwölfer. Und dass man an einen Punkt komme, an dem man sich entscheiden müsse. Vier Minuten dauert seine Erklärung, dann sagt er: "Aber es geht nicht um mich, genießen Sie den Nachmittag."

Nach einer halben Stunde kommen die Fragen

Eine halbe Stunde vermag sich die Runde im Zaum zu halten. Frau Ganslmeier, "die liebe Ruth", bekommt nachträglich zu ihrem 75. ein Gedicht vorgetragen, es wird gelacht und getratscht. Frau Ganslmeier fragt, ob noch koffeinfreier Kaffee gewünscht wird. Die nächste Frage richtet sich an Pfarrer Zwölfer. Es ist die Frage nach dem Warum.

Warum jetzt, mit 49?

14 Frauen und ein Mann sind zu diesem Kaffeekränzchen gekommen - fast alle im fortgeschrittenen Rentenalter. Eine polizeiliche Vernehmung könnte nicht effektiver sein. Doch Pfarrer Zwölfer will gar nicht ausweichen, er will seine Geschichte erzählen. Die Geschichte eines Menschen, der selten gelebt hat, wie er fühlte. Und der lange nicht gewusst hat, was er fühlen darf.

Mit fünf Jahren wollte Andreas Zwölfer von seiner Mutter wissen, wann er schwanger werden würde. Es war das erste Mal, dass ihn eine Antwort auf so eine seltsame Art traurig stimmte. Man könne sich sein Leben vorstellen wie das einer Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandle. "Die Raupe entscheidet das auch nicht, es ist in ihr drin." Oder wie zwei übereinander liegende Puzzles. Oben das des Mannes, unten das der Frau - und nach und nach würden die weiblichen Puzzleteile freigelegt.

Vor zwei Jahren hat Andreas Zwölfer zusammen mit seiner Frau die Pfarrerstelle in Neufahrn übernommen. Sein Schlüsselerlebnis hatte er ein halbes Jahr vorher. Es war Fasching, als ihn ein paar Frauen fragten, ob sie ihn als Frau schminken dürften. Spaßeshalber. Als Zwölfer sich abschminkte, erfasste ihn wieder diese "abgrundtiefe Traurigkeit". Er informierte sich und verstand plötzlich vieles von dem, was ihm in der Vergangenheit unerklärlich gewesen war. Das Puzzle fügte sich zu einem Bild.

Im Februar 2012 wandte sich Zwölfer an zwei Psychiater und einen Therapeuten. Nicht weil er fürchtete, verrückt zu sein, wie er früher manchmal dachte. Sondern weil er sich seiner Sache sicher sein will. Ohne Gutachten gibt es keine Hormonbehandlung. Die Diagnose im Herbst 2012 bestätigt: Zwölfer ist körperlich dem männlichen Geschlecht zugehörig, fühlt aber als Frau. Erst jetzt wagte er es, seine Ehefrau einzuweihen, "denn die Angst ist viel schlimmer als die Realität".

Die Selbstmordrate von Transsexuellen liegt weit über dem Durchschnitt. Die Reaktion seiner Frau empfindet er daher als Geschenk, wie er sagt, als "echte Liebe". Denn statt der befürchteten Trennung hält sie zu ihm, auch der Arbeitgeber stellt sich hinter ihn. Es sei die Aufgabe der evangelischen Kirche, Pfarrer Zwölfer bei seinem Weg beizustehen, betont der Landshuter Dekan Siegfried Stelzner. Beim Outing vor der Gemeinde war er demonstrativ anwesend.

"Trotzdem haben Sie noch einen weiten Weg vor sich", sagt eine Frau am Kaffeetisch. Zwölfer lächelt. "Der größte Weg liegt bereits hinter mir." Eltern, Familie, Freunde - die wichtigsten Menschen unterstützen ihn. Auch in Neufahrn erhalte er überwiegend Zuspruch, sagt Zwölfer, dennoch wird er die Gemeinde zum 1. Juni verlassen. Denn es gibt auch Leute, die sagen, sie würden unter diesem Pfarrer keinen Gottesdienst mehr besuchen. Er wolle Rücksicht nehmen auf die Schwachen im Glauben, erklärt Zwölfer. Möglicherweise wird seine nächste Station eine sogenannte Sonderpfarrstelle sein. Seelsorger im Gefängnis. Oder im Krankenhaus.

Seit einem halben Jahr unterzieht Zwölfer sich einer Hormonbehandlung. Die Gesichtszüge werden weicher, die Stimme heller, mit einem Logopäden arbeitet er an Kleinigkeiten: "Männer sprechen mehr im Kehlkopf, Frauen mehr nach vorne." Mit seiner Frau hat er sich den Namen Dorothea ausgesucht, "Geschenk Gottes". Andreas bedeutet der Tapfere, "auch das war nicht falsch", sagt Zwölfer. E-Mails unterschreibt er bereits mit "Pfarrerin Dorothea Zwölfer". Rechtlich gesehen ist Zwölfer noch ein Mann, optisch hat er sich vorgenommen, als Frau nicht aufzufallen. Nicht ganz einfach, bei einem Körpermaß von 1,89 Meter und Schuhgröße 46.

Der letzte und schwerste Schritt zur Angleichung wird die Operation sein. Angleichen - nicht umwandeln, darauf legt Zwölfer Wert. Um aufzuklären und Klischees zu widerlegen, hat er einen Internetblog angelegt (www.aufwind2012.wordpress.com). Je nach Quelle leben in Deutschland wenige Tausend oder viele Zehntausend Transsexuelle. Alle indes fühlten sich durch ungenaue Wortwahl diskriminiert. Schlagzeilen wie "Mann will Frau werden" seien verpönt, denn: "Unser Gehirn war schon immer weiblich, nur der Körper nicht."

"Ziemlich kompliziert finde ich das ja schon", sagt eine Frau. Eine Dreiviertelstunde hat Pfarrer Zwölfer jetzt gesprochen. "Wir danken Ihnen jedenfalls, dass Sie so offen über Ihre Probleme reden", sagt Frau Ganslmeier. Und weil es nach so einem ernsten Thema etwas Süßes brauche, serviert sie zum Abschluss Eierlikör im Waffelbecher.

Aufgrund verschiedener Leserkommentare zu diesem Beitrag, ein kleiner Hinweis: Der Text sollte in keiner Weise dazu beitragen, Frau Pfarrerin Zwölfer (oder weitere Transsexuelle) zu diskriminieren oder durch die männliche Anrede in ihren Gefühlen zu verletzen. Vielmehr gab es für diese gewählte Anrede Gründe, auf die hier aus Rücksichtnahme auf Beteiligte allerdings leider nicht näher eingegangen werden kann. Der Autor und Frau Zwölfer haben sich in einem sehr offenen, angenehmen Gespräch ausgetauscht, das Missverständnis wurde ausgeräumt. Frau Zwölfer wird dies in Ihrem Internetblog (www.aufwind2012.wordpress.com ) bestätigen können. Eventuelle Irritationen waren nicht beabsichtigt - sollte es dennoch dazu gekommen sein, bedauern wir dies.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1654512
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.04.2013/wib
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.