In seiner anrührenden Autobiografie "gehen lernen" erzählt der Autor Harald Grill, wie sein Vater vor vielen Jahrzehnten den Plan fasste, ein Bücherregal zu kaufen. "Das rentiert sich doch nicht für uns", hielt ihm die Mama entgegen. "Und da hatte sie schon recht", schreibt Grill. "Wir hatten nämlich nicht besonders viele Bücher, die wir in so ein Regal stellen konnten. Das dickste hieß Bayerisches Kochbuch. Da steht drin, wie man Reiberdatschi macht und Pfannenkuchen und Leberknödelsuppe und Schweinsbraten."
Recht viel treffender kann man die Bedeutung des Bayerischen Kochbuchs nicht zusammenfassen. Harald Grill streift in dieser Szene eines der größten Phänomene auf dem Büchermarkt überhaupt. Das Bayerische Kochbuch gibt es seit mehr als 100 Jahren, seine Erfolgsgeschichte hält bis heute an. Nach wie vor werden jährlich 20 000 Exemplare verkauft, die Gesamtauflage liegt bei 1,6 Millionen. Kein Wunder, dass dieses Werk mittlerweile auch wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat.
Auch die Würzburger Sprachwissenschaftlerin Regina Frisch ist vom Kochbuch-Fieber gepackt worden, nachdem sie sich im Jahr 2009 ein Exemplar zulegt hatte. "Ich ahnte nicht, was ich damit lostreten sollte", sagt sie. Die wechselvolle und nicht selten skurrile Geschichte des Bayerischen Kochbuchs ließ sie nicht mehr los. Nun hat sie ihre Ergebnisse in einem Buch zusammengefasst. Regina Frisch hat gleichsam eine Biografie des Bayerischen Kochbuchs verfasst, die auf eine faszinierende Weise auch die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts abbildet.
In einer Ausgabe von 1938 fand die Autorin beispielsweise eine Gliederung, die der heutigen weitgehend entsprach, das Vorwort aber war eindeutig vom Geist des Nationalsozialismus geprägt: "Die Frau steht am Herd an der Front." In der Tat: Das Bayerische Kochbuch hat vieles miterlebt, im Guten wie im Schlechten. In ihm verdichten sich die Zeitläufte wie in einem Brennglas: die Jahrzehnte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, zwei Weltkriege, Wirtschaftskrise und Wirtschaftswunder...
Peu à peu wertete Frisch alle 56 Auflagen aus, beginnend beim ersten, noch in Gelbleinen gebundenen Band, wobei sie auch stark benutzte Bände mit handgeschriebenen Einträgen heranzog. Nicht selten stieß sie beim Blättern auf Fundstücke, die jemand zwischen die Seiten gelegt hatte. Ein Kochbuch diente 1966 gar als Aufbewahrungsort für ein Telegramm: "Vater verstorben Beerdigung Dienstag 14 Uhr."
Ansonsten haben sich die Inhalte des Kochbuchs über die Zeiten hinweg nur wenig verändert, die Sprache aber schon. Sehr deutlich spiegeln sich darin Küchen- und Technikgeschichte, Sprache und Zeitgeist wider. So erstreckte sich im Ersten Weltkrieg der Patriotismus bis auf den Teller: 1910 servierte man zum Dessert noch Apfelsinengelee, 1916 wurde dann Apfelsinensulz gereicht. Kochrezeptnamen wurden einer Sprachsäuberung unterzogen. Gerichte mit französischen Namen wurden umbenannt. Die Sauce wurde zur Soße, aus Püree wurde Brei, das Apfelsoufflé von 1910 hieß nun Aufgezogene Apfelspeise, aus Boeuf à la mode wurde Brühfleisch - dabei waren die Rezepte völlig identisch.