Tod der zweijährigen Lea:"Nu bist tu weg und das für immer"

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Probleme, Krankheiten und so "Psychesachen" haben die Mutter der verhungerten Lea belastet. Sie floh davor - ins Internet.

Max Hägler, Tirschenreuth

Die Empörung ist nicht zu übersehen: "Todesurteil für Birgit W.!" steht auf einer großen Pappe, von Hand geschrieben. Das Schild hängt am Tor des Hauses in Tirschenreuth, in dem vor einer Woche die zweijährige Lea tot aufgefunden wurde.

Das Mädchen war offensichtlich nicht nur chronisch krank, es hatte zudem tagelang nichts gegessen und wohl auch nichts getrunken. Etwa zehn Kilo soll Lea bei ihrem Tod gewogen haben - ein langsames und qualvolles Sterben. Um so merkwürdiger mutet an, was ihre Mutter Birgit W. in der Nacht vor dem Tod in einem Onlineportal schrieb: "Laaaaaaaaaaangweilig .... hat ned jemand nen tipp was i tun könnt?"

Manuela Hartwig hat diesen Eintrag gelesen, wie sie überhaupt die allermeisten von Birgits Einträgen mitbekommen hat. Manuela, die eigentlich anders heißt und in der Nähe von Teisnach im Bayerischen Wald wohnt, hat das Leben der 21-jährigen Mutter seit ziemlich genau einem Jahr verfolgt.

Im Chat-Raum eines Radiosenders hatten sie sich damals kennengelernt. Ein paar Wochen später, am 14. Juli 2009, traf man sich auf einem Chattertreffen in Franken. Knapp 20 Onlinefreunde kamen zusammen, es war das erste und einzige Mal, dass Manuela und Birgit sich ganz real trafen. Auf den Fotos lacht Birgit. "Sie war eine Ulknudel", sagt ihre Freundin. Auf dem Treffen habe Birgit kaum von den Problemen erzählt, über die sie sonst in den Blogs und Foren schrieb.

Wobei der Begriff "Freundin" für Manuela Hartwig vielleicht auch das falsche Wort ist. Daumendick ist zwar der Stapel der Chatprotokolle, die Manuela noch auf dem Rechner gefunden und ausgedruckt hat. Um Männer geht es da und um die Kinder.

Im Dezember schreibt Birgit alias "Engerl" etwa, dass der Kindergarten angerufen habe, weil ihr vierjähriger Sohn "nur rumhaut und spuckt". Sie habe dem Kindergarten gesagt, dass "eigentlich nix" los sei zu Hause. Vielleicht liege es daran, dass er übers Wochenende bei seinem von ihr getrennt lebenden Vater gewesen sei.

Und von der Tochter Lea berichtet Birgit immer wieder, dass sie Schmerzen habe, wenn man sie anfasse. Ein Gendefekt soll es gewesen sein.

Man nennt sich "Schwesterle" und verabschiedet sich mit *knuddel* und *reknuddi* - aber ist sie auch eine echte Freundin? Manuela Hartwig schweigt lange. Eine direkte Antwort gibt sie nicht.

"Ich weiß selber, wie es ist, alleinerziehend zu sein", sagt sie schließlich. Sie kenne die Phasen, wenn man dann zu niedergeschlagen sei, um sich um die Kinder zu kümmern. "Deswegen wollte ich ihr ein wenig helfen, zeigen, wie sie das bewältigen kann."

Da kam das Internet gerade recht. Bei Manuela Hartwig steht zwar eine Milchkanne im Treppenhaus, aber es gibt auch DSL. Das halbe Dorf nutze das Internet mittlerweile, um zu quatschen und zu spielen. "Eine Dorfwirtschaft für uns Junge gibt es ja nicht mehr", sagt die 30-Jährige.

War also das Internet, in dem Birgit so offensichtlich aufgegangen ist, auch so etwas wie eine Hilfsinstitution - und nicht, wie einige im Ort vermuten, der alleinige Grund für die Vernachlässigung? Martina de Zwaan, die Leiterin der psychosomatischen Abteilung der Uniklinik Erlangen, ist vorsichtig, wenn es darum geht, das Internet nur zu verteufeln.

Die Betroffenen hätten ihre Probleme meist nicht erst durch das Internet bekommen, vielmehr sei es andersherum: Oft seien Menschen, die sich eine Parallelwelt im Internet aufbauen, vom echten Leben überfordert. "Sie nutzen das Medium zum Verdrängen", sagt de Zwaan.

So wie Birgit. Am vergangenen Sonntag, wohl Stunden bevor sie festgenommen wurde, schrieb sie noch in ihrem Blog: "Ich möchte mal den leuten danken di wo mi versuchen abzulenken."

Auch den Tod ihrer Tochter hatte sie am zurückliegenden Samstag über das Internet bekanntgegeben: "Für meine Tochter nicht mal 3 Jahre durfte ich dich haben und nu bist tu weg und das für immer ich vermiss doch so sehr ich bin ganz fertig was fürn scheiss gefühl sei eigenes kind tod auf zu finden."

Manuela Hartwig konnte das nicht glauben: "Ich habe das gelesen und wollte sie anschreiben, aber da war sie offline." Nach einer Zigarette setzte sich die Internet-Bekannte an den Rechner und schrieb einen Kommentar unter die Todesnachricht. Von "Fassungslosigkeit" ist da die Rede.

Probleme mit so Psychesachen

"Birgit tat so, als sei eine Vase zerbrochen, es wirkte alles so unrealistisch", sagt Manuela Hartwig. So ein Verhalten sei keine Einzelerfahrung, sagt sie. "Wir reden da nicht von ein paar hundert Fällen in Deutschland!"

Die User würden immer wieder "ihr Packerl Probleme" auf den Bildschirm knallen und offensichtlich hoffen, dass andere User helfen. So wie Birgit, sagt ihre Chatfreundin. Tatsächlich liest man in den Protokollen von einem Autounfall, den Birgit vor Jahren miterlebt hat, von Krankheiten und Depressionen, von scheiternden Beziehungen, von "Psychesachen".

Die Wut der Passanten und Anwohner in Tirschenreuth sowie die der vielen Internet-Nutzer verspürt Manuela Hartwig nicht. Sie sagt: "Entweder war die Birgit eiskalt - das glaub ich aber nicht. Oder sie hat die Realität nicht mehr erfasst, war überfordert mit allem." Sie will ihrer Chatfreundin helfen.

"Wenn sie wieder einmal online ist, nach der Haft, nach der Therapie, wann auch immer, dann werde ich sie nicht anchatten, sondern zum Telefon greifen." Und dann wolle sie hören, dass sich Birgit echte Hilfe hole. Andernfalls sei das Thema, sei Schwesterle für sie erledigt.

© SZ vom 03.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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