Stefanie Springl, 32, öffnet die Tür und tritt ins Zimmer. Jetzt steht sie genau auf dem Quadratmeter, um den sich diese Geschichte dreht. Als „nicht bewohnbar“ hat ihn das Landratsamt Traunstein bezeichnet, weil Zimmer- und Badtür aufschwingen und deshalb hier kein Möbelstück stehen kann. Springl schaut sich ratlos im Zimmer um. Das hätte sie sein können. Die Rettung für das Tittmoninger Heim für Sucht- und psychisch Kranke. Für die 68 Bewohner der Einrichtung, die rund 130 Mitarbeiter und für Springl selbst.
Beim Rundgang über das Gelände grüßt Springl immer wieder lautstark die Bewohner, die noch da sind. Sie ist die Leiterin der Arbeits- und Beschäftigungstherapie. Jemand, dem man sich gerne anvertraut. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie mit den psychisch kranken Menschen umgeht, beeindruckt. Auch im geschützten Bereich, der hinter verschlossenen Türen liegt. „Nicht erschrecken“, sagt Springl, „die Bewohner hier sind zum Teil schwer krank, und das sieht, riecht und hört man.“

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Bald muss Springl sich einen neuen Job suchen. Das Heim für Sucht- und psychisch Kranke in Tittmoning – das größte in der Region – schließt Ende August. Es teilt das Schicksal des angeschlossenen Seniorenpflegeheims Domus Mea, das bereits im Februar zumachte. Damit verschwindet ein Ort, an dem sich Menschen wohlgefühlt haben, der für viele so etwas wie Heimat war. Wie konnte es so weit kommen?

Die Probleme beginnen Anfang 2024 im Seniorenpflegeheim. Aufgrund des Fachkräftemangels gerät die Einrichtung in finanzielle Schieflage. Leiharbeit, teure Reparaturen stehen an – und dann ist da noch die Personalnot.
Ende 2024 spitzt sich die Lage zu. Martin Nell, der Geschäftsführer des Tittmoninger Zentrums, erinnert sich noch genau. Es ist der 1. November. Eine Mitarbeiterin ruft ihn an: Wir haben keinen Nachtdienst. Er, selbst ausgebildeter Altenpfleger, springt ein. Doch das hilft nur kurzfristig. Im Januar muss er für den Pflegebereich Insolvenz anmelden, im Februar 2025 folgt das Aus.
Für das benachbarte Heim für Sucht- und psychisch Kranke steckt darin eine Chance. Denn mit der Insolvenz des Pflegeheims entsteht ein Plan, der große Hoffnung schürt: Der offene Bereich des Therapiezentrums könnte vom Stadtplatz in das Gebäude des ehemaligen Pflegeheims umziehen. Auf diese Weise könnte man Pacht sparen und sogar zusätzliche Therapieplätze schaffen. Denn das ehemalige Pflegeheim ist neuer, heller und größer, mit Balkonen und Terrassen.
„Wir haben uns schon den Sommer ausgemalt“, sagt eine junge Bewohnerin mit blondiertem Haar. Sie sitzt am Tisch, noch etwas zerzaust. Gerade erst ist sie aufgestanden. Seit die meisten der anderen Bewohner ausgezogen sind, verbringt sie viel Zeit allein, mache die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht, sagt sie. Seit zwei Jahren wohnt sie im geschützten Bereich des Tittmoninger Therapiezentrums. Nach einem schweren Autounfall 2016 wurde sie opiatabhängig, kämpfte sich durch den Entzug und ist mittlerweile so weit, dass sie bald in eine offene Einrichtung umziehen darf. Als sie im Februar von den Plänen für den Umzug hört, freut sie sich. „Wir sind schon rübergegangen und haben ein bisschen spioniert“, sagt sie und lächelt, „das wäre voll cool gewesen, vor allem mit den Balkonen.“

Doch es kommt anders. Für die Qualitätssicherung in Heimen ist beim Landratsamt Traunstein die FQA zuständig, die Fachstelle für Pflege- und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht. Anfangs habe die FQA noch Zustimmung signalisiert, berichtet Springl. Eine Woche später sei jemand zum Vermessen gekommen. Und stellte fest: Acht Zimmer im ehemaligen Pflegeheim sind zu klein – um etwa einen Quadratmeter.
Zimmer in Einrichtungen für Suchtkranke und psychisch kranke Menschen müssen mindestens 14 Quadratmeter groß sein, Doppelzimmer 20 Quadratmeter. Das schreibt die bayerische Ausführungsverordnung des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes vor. Die Räume in dem ehemaligen Seniorenheim sind groß genug – eigentlich. Doch ein Teil der Fläche zählt nicht als bewohnbar. Balkone etwa. Und alle Bereiche, in die sich Türen öffnen. Zieht man das von der Gesamtquadratmeterzahl ab, sind acht Zimmer im ehemaligen Seniorenheim zu klein.
Die FQA sieht sich nicht in der Lage, den Umzug zu genehmigen. Die rechtliche Prüfung habe ergeben, dass nicht von der Mindestgröße abgewichen werden könne, teilt der Pressesprecher des Landratsamts Traunstein auf Nachfrage mit. Die Einrichtung darf also nicht umziehen.

Das Paradoxe: Wegen Bestandsschutz darf der Betrieb im alten Gebäude weitergehen, obwohl viele der Zimmer dort deutlich kleiner sind. Hierüber kann Stefanie Springl nur den Kopf schütteln: „Wir müssen in unseren alten, kleineren Räumlichkeiten bleiben – wegen eines Quadratmeters.“
Was macht ein gutes Heim aus? Wer bestimmt, was im Interesse der Bewohner ist? Wie misst man, welche Zimmergröße für Menschen mit psychischen Erkrankungen angemessen ist? Und was zählen andere Aspekte: Bezugspersonen, die Hausgemeinschaft, so etwas wie Heimat?
Für die junge Bewohnerin mit blondiertem Haar war das zehn Quadratmeter kleine Zimmer im alten Therapiezentrum ihr Zuhause. Das Personal wird ihr fehlen, die Gemeinschaft mit anderen Bewohnern. Auch die schöne Umgebung, die Eisdiele im Ort, die Pizzeria, in der sie mit ihrem Namen angesprochen wird. Und die Nachbarn, die nett grüßen, das gute Essen. All das wird ihr nun genommen.
Die gesetzlichen Standards dienten nicht der Bürokratie, sondern dem dauerhaften Schutz der betreuten Menschen, auch künftiger Bewohner. Das teilt der Pressesprecher des Landratsamts Traunstein auf SZ-Anfrage mit. Eine Befreiung der Einrichtung von der Zimmermindestgröße sei nicht mit den Interessen der Bewohner vereinbar.
Der Sprecher betont zudem, die fehlenden Quadratmeter seien nicht der eigentliche Grund für die Schließung gewesen. Dieser habe vielmehr in der wirtschaftlichen Schieflage der Einrichtung gelegen. Es gebe bauliche Mängel, einen Investitionsstau. Man habe dem Betreiber vorgeschlagen, den Betrieb mit weniger Therapieplätzen fortzuführen. Man hätte Wände versetzen und manche Räume umnutzen können.
Geschäftsführer Martin Nell sagt, das Konzept wäre mit 98 Plätzen nicht wirtschaftlich gewesen – mit 103 hingegen schon. Außerdem habe der Vermieter, die Investmentfirma Swiss Life, zugesichert, in den Brandschutz zu investieren. Allerdings verliefen auch die Verhandlungen mit Swiss Life keineswegs einfach. Die Vergrößerung der Räume habe die Firma nicht bezahlen wollen, sagt Geschäftsführer Nell. Auch zwischen der FQA und Swiss Life hat es wohl geknirscht. Nell versuchte zu vermitteln. Vergeblich. Denn im April ist es endgültig: Das Therapiezentrum muss schließen.
Alle beteuern, dass das Wohl der Bewohner stets oberstes Ziel gewesen sei: Der Betreiber, die FQA, der Bezirk, das Gesundheitsministerium, Politiker. Die Bewohner haben sich während der Verhandlungen mehrfach selbst zu Wort gemeldet. Es wurden Unterschriften gesammelt und Briefe an die Behörden geschrieben. Einmal haben die Bewohner auch Mitarbeiter der FQA zu sich in die Einrichtung eingeladen, um mit ihnen über die Pläne zu diskutieren. Am Ergebnis hat das nichts geändert.

Ein Umzug ist für die Bewohner ein großer Einschnitt. Einer trat sogar in Hungerstreik. Inzwischen seien die meisten der rund 70 Bewohner in neuen Einrichtungen untergekommen. Es sei nur seinen Mitarbeitern zu verdanken, dass dies trotz allem vergleichsweise ruhig verlaufen sei, sagt Geschäftsführer Nell. Es herrsche ein starker Zusammenhalt. Nur wenige der rund 130 Mitarbeiter seien gegangen, die meisten blieben bis zum Schluss. Einige denken aber nun darüber nach, aus dem sozialen Bereich auszusteigen.
Über die Zeit nach der Schließung hat sich Heilerziehungspflegerin Springl bisher kaum Gedanken gemacht. Im Moment sei nur wichtig, dass alle Bewohner gut untergebracht seien, sagt sie. Vielleicht wird auch sie sich beruflich umorientieren. Bei Wacker Chemie anheuern, einem der größten Arbeitgeber der Region. „Dort haben sie letztes Jahr schon wieder eine Gewinnausschüttung bekommen“, sagt sie, „10 000 Euro – einfach so.“ Auch Geschäftsführer Nell wird sich ab September eine neue Tätigkeit suchen. Was genau, weiß er noch nicht. Dass es im Landkreis Traunstein sein wird, ist aber eher unwahrscheinlich.

