Tiktok in den USA:Die 50-Milliarden-Dollar-Erpressung

Tiktok in den USA: Viraler Hit: Mit einem als Make-up-Tutorial getarnten Video auf Tiktok machte die US-Schülerin Feroza Aziz auf die Verfolgung der Uiguren in China aufmerksam.

Viraler Hit: Mit einem als Make-up-Tutorial getarnten Video auf Tiktok machte die US-Schülerin Feroza Aziz auf die Verfolgung der Uiguren in China aufmerksam.

(Foto: tiktok)

Der chinesische Konzern Bytedance steckt in einem Dilemma: Entweder er verkauft Tiktok an Microsoft, oder Präsident Donald Trump verbietet die Plattform in den USA. Es geht um schwindelerregend viel Geld - und noch viel mehr.

Von Christoph Giesen, Peking, und Jannis Brühl

Es herrschte Verwirrung, das ganze Wochenende lang: Wird Donald Trump die populäre Video-App Tiktok tatsächlich in den USA verbieten, oder blufft er nur? Am Freitagabend hatte der US-Präsident an Bord der Air Force One noch gesagt: "Was Tiktok betrifft, so verbannen wir sie aus den USA." Er habe die Befugnis dafür und könne dies mit einer Präsidentenverfügung oder einer wirtschaftlichen Notstandsermächtigung tun. Und wann? Na, sofort, gleich, am nächsten Tag.

Doch: Der Samstag verstrich und auch der Sonntag. Kein Verbot der App, die nach eigenen Angaben von hundert Millionen Amerikanern genutzt wird. Stattdessen eine neue Frist: 45 Tage gewährt Trump, wie das Weiße Haus tief in der Nacht ankündigte. Zuvor hatte Microsoft bekannt gegeben, das Geschäft von Tiktok in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland übernehmen zu wollen. Trump räumt Microsoft nun Zeit bis Mitte September ein, um den Kauf abzuschließen. Es wäre die größte Übernahme in der Geschichte von Microsoft, der Deal des Jahres, vor allem aber eine gewaltige Erpressung: Entweder gibt der chinesische Mutterkonzern Bytedance sein Tiktok-Geschäft ab, oder Trump verbietet es. Entweder akzeptiert Bytedance eine Microsoft-Offerte in der Größenordnung von 50 Milliarden Dollar, oder das Unternehmen geht völlig leer aus. Friss oder stirb.

Ein Federstrich der Regierung in Peking, und Riesenkonzerne stehen vor dem Ruin

Tiktok ist zum Streitobjekt in dem immer stärker eskalierenden Konflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten geworden, der erst Ende Juli seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden zu haben schien: Nachdem Washington die Schließung des chinesischen Konsulats in Houston angeordnet hatte, ließ Peking wenig später die amerikanische Vertretung in Chengdu räumen. Aus heutiger Sicht fast eine Petitesse im Vergleich zu Tiktok und seinen Abermillionen Nutzern.

Auf Fox News erklärte US-Außenminister Mike Pompeo dann, dass Trump sogar sämtliche Software aus China verbieten werde - aus Sicherheitsgründen. Dienste wie Tiktok oder Tencent, das die in China populäre App Wechat betreibt, würden Nutzerdaten an die Kommunistische Partei weiterleiten. "Es könnten Ihre Gesichtserkennungsmuster sein. Es könnten Informationen über Ihren Wohnort, Ihre Telefonnummern, Ihre Freunde sein, mit wem Sie verbunden sind", sagte Pompeo. Zudem betrieben die Konzerne Zensur im Sinne Pekings.

An diesem Eindruck ist Tiktok nicht ganz unschuldig: Im Herbst 2019 hatte eine Schülerin aus den USA ein Tiktok-Video aufgenommen. "Hi Leute, ich will euch erklären, wie man lange Wimpern bekommt", sagte sie. "Als Erstes müsst ihr eure Wimpern-Zange nehmen, dann natürlich eure Wimpern biegen, sie dann wieder herunternehmen und euer Handy nehmen, das ihr genau jetzt nutzt, und danach suchen, was genau jetzt in China passiert, wie sie Konzentrationslager bauen und unschuldige Muslime hineinstecken, Familien voneinander trennen, Leute entführen, ermorden, vergewaltigen, sie zwingen, Schweinefleisch zu essen." Genau das passiert in Xinjiang, im Nordwesten Chinas. Und genau das in einer in China entwickelten App anzuprangern, darin lag der Reiz. Das Video verbreitete sich schnell, bis Tiktok die Aufnahme löschte und den Eindruck erweckte, im Auftrag Pekings gehandelt zu haben.

Beweise, dass der chinesische Staat auf Tiktok-Daten von US-Amerikanern zugegriffen hat, haben IT-Experten bislang nicht gefunden. Ganz von der Hand zu weisen sind die Argumente aus Washington jedoch nicht, wie das Beispiel des chinesischen Netzwerkausrüsters Huawei zeigt, der in Europa beim Aufbau des 5G-Mobilfunknetzes zum Zuge kommen möchte. Zwar beteuert Huawei immer wieder, in keinem Fall Kundendaten an den Staat weiterzugeben, die Gesetzeslage in der Volksrepublik ist jedoch eindeutig: Sehen die Behörden die nationale Sicherheit bedroht, erlaubt ihnen das chinesische Nachrichtendienstgesetz, Unternehmen, aber auch Einzelpersonen zur Kooperation zu verpflichten und Geheimhaltung anzuordnen. Tiktok argumentiert, dass die Nutzerdaten in den USA gespeichert seien und deshalb nicht von den chinesischen Behörden eingesehen werden könnten. Welchen Druck der Apparat in Peking jedoch entfalten kann, das wissen sie beim Mutterkonzern Bytedance sehr genau.

Finanziell und technisch mag Chinas Start-up-Landschaft mit dem Silicon Valley auf Augenhöhe liegen, und dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied: Ein Federstrich der Regierung in Peking, und Milliardenkonzerne stehen vor dem Ruin, eine Anordnung oder ein kritischer Artikel in der Volkszeitung, und Chinas Digitalkonzerne kuschen.

Beispiel Toutiao. Die App ist ein sogenannter Nachrichtenaggregator, übersetzt heißt der Dienst "Schlagzeile". Je nach Vorlieben, Themen, Autoren oder Titel schlägt einem die App Texte und Videos vor. Millionen Chinesen lesen nur über Toutiao. Welche Artikel, welche Videos jemand sieht, merkt sich das System, ebenso, wie lange man in einem Text verweilt, wo man ihn abbricht oder weiterscrollt, an welchem Ort man sich befindet. Aus all dem zieht der Algorithmus Schlüsse. Am Anfang kann noch ein Kochrezept direkt auf eine Eloge der amtlichen Nachrichtenagentur auf den allmächtigen Staats- und Parteichef Xi Jinping folgen. Nach ein paar Runden ist die Auswahl jedoch deutlich akkurater. Ende 2017 schalteten die Behörden Toutiao für 24 Stunden ab. Der Vorwurf: "Pornografische und vulgäre Inhalte" seien verbreitet worden. Als Reaktion stellte Toutiao 2000 Zensoren ein - eine Nachrichtenmaschine zensierte sich selbst. Man werde die "sozialistischen Werte" achten und verbreiten, erklärte Gründer Zhang Yiming damals kleinlaut. Zhang ist auch der Chef von Bytedance und Toutiao neben Tiktok der zweite große Erfolg seines Unternehmens.

In der Volksrepublik heißt die Anwendung übrigens Douyin. Der Unterschied ist die Gesellschaftsform. Tiktok ist zwar eine hundertprozentige Tochter von Bytedance, registriert ist sie jedoch in Singapur, und die gesammelten Daten werden laut Unternehmen im Unterschied zu den Informationen der Douyin-Nutzer auf Servern außerhalb Chinas gespeichert.

Microsoft gibt sich in einem Statement auf einmal superpatriotisch

Am Montag schrieb Bytedance-Chef Zhang einen Brief an seine Mitarbeiter und erklärte, die Gesellschaft habe Gespräche mit einem Technologiekonzern aufgenommen, um ihre App in den USA weiterhin anbieten zu können. Gleichwohl teile der Konzern nicht die Auffassung des US-Komitees für Auslandsinvestitionen (CFIUS), dass Bytedance sein US-amerikanisches Tiktok-Geschäft vollständig verkaufen müsse. Auf dieses Urteil stützt sich nämlich US-Präsident Trump bei seinem 45-Tage-Ultimatum. Seit vergangenem November prüft CFIUS den Fall Tiktok und untersucht dabei besonders den Kauf der Playback-App Musically im Jahr 2017, aus der Bytedance erst Tiktok in seiner heutigen Form entwickelte.

Trumps Leute im CFIUS könnten also Microsofts beste Makler werden. Jener Konzern, der mit Bürosoftware und Betriebssystemen für Computer groß geworden ist, aber das Social-Media-Zeitalter verschlafen hatte, könnte schlagartig das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk kontrollieren - vor wenigen Wochen noch unvorstellbar. Wagt sich Microsoft in dieses Geschäft vor, wird es sich auch den Debatten über Desinformation, irreführende Werbung und politische Manipulation nicht mehr entziehen können, die Mark Zuckerberg von Facebook und Sundar Pichai von Google Nerven und Geld kosten.

Als einziges Unternehmen aus der ersten Riege der amerikanischen Tech-Konzerne durfte sich das Management um Vorstandschef Satya Nadella und Gründer Bill Gates entspannt mit ansehen, wie sich die Obleute von Apple, Facebook, Google und Amazon vergangene Woche im US-Kongress von Abgeordneten für ihre Geschäftspraktiken geißeln lassen mussten. Entsprechend patriotisch gab sich Microsoft in einem Statement. Ein Einstieg bei Tiktok würde natürlich die Daten von US-Bürgern schützen und "angemessene wirtschaftliche Vorteile für die Vereinigten Staaten" bringen.

Nicht alle Amerikaner werden das unbedingt goutieren, etwa Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Tiktok ist zwar die erste ernst zunehmende Konkurrenz für seine Netzwerke Facebook und Instagram, weswegen er auch vor dem Kongress wieder vor chinesischem Einfluss im Technologiesektor warnte. Dass Donald Trump nun gegen einen Konkurrenten vorgeht, wird ihm passen; dass der Präsident Tiktok Microsoft zuschustern könnte und damit einen riesigen nationalen Konkurrenten schafft, weniger.

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