SZ-Serie: Vogelwuid:Bald kommt das Bartgeier-Küken

Bartgeierküken

Ein kleiner Bartgeier ist zu Beginn seines Lebens klein und fluffig und geradezu putzig - wie dieser aus dem Center Vallcalent bei Lleida in Spanien. Ein ausgewachsener Vogel allerdings kann durchaus furchteinflößend wirken.

(Foto: Hansruedi Weyrich/oh)

Der Nachwuchs im Nürnberger Tiergarten soll nächste Woche schlüpfen. Es wird ein Einzelkind bleiben, ein zweites Ei ist inzwischen zerbrochen. In freier Wildbahn würde ein Vogel einen zweitgeborenen umbringen - so hat es die Natur vorgesehen.

Von Christian Sebald

Jetzt wird's spannend. "Noch höchstens eine Woche, dann sollte das Bartgeier-Küken schlüpfen", sagt der stellvertretende Direktor der Tiergartens Nürnberg, Jörg Beckmann. Das Weibchen des Bartgeier-Paars hat das Ei am 10. Januar in der weitläufigen Voliere des Tiergartens abgelegt. Der errechnete Schlupftermin ist der 5. März. "So ein Bartgeier-Küken kann aber auch ein paar Tage vor oder nach dem errechneten Termin schlüpfen", sagt Beckmann. "Das ist ganz normal."

Es ruhen große Hoffungen auf dem Küken. In ein paar Monaten soll der Jungvogel zu den drei Bartgeiern gehören, die der Landesbund für Vogelschutz (LBV) im Nationalpark Berchtesgaden auswildern wird. Bartgeier sind spektakuläre Greifvögel mit einer Spannweite von bis zu drei Metern. Sie waren einst weit verbreitet in den Alpen. Dann wurden sie ausgerottet. In Tirol, der Schweiz und Südtirol laufen seit Jahren erfolgreiche Wiederansiedlungen. Nun zieht Bayern nach. Der LBV wird binnen zehn Jahren bis zu 30 Bartgeier im Nationalpark Berchtesgaden auswildern. Der Nürnberger Jungvogel soll den Anfang machen. Die SZ begleitet die Aktion.

Allerdings muss das Küken dafür erst einmal schlüpfen. Das wird ein Kraftakt, der Schlupf eines Bartgeiers dauert zwei Tage. Das Küken und die Elterntiere bereiten sich denn auch schon darauf vor. "Das beginnt damit, dass sich das Küken im Ei mit dem Kopf zum stumpfen Ende dreht, wo die Luftblase liegt", sagt Beckmann. "Dann durchsticht es die Membran zur Luftblase und nimmt den ersten tiefen Atemzug seines Lebens."

Zugleich stößt der Jungvogel leise Piepstöne aus. Sie sind das Signal für die Eltern, das Ei nicht länger im Stundentakt zu wenden. Denn nur wenn das Ei ruhig daliegt, kann das Küken beginnen, mit seinem Eizahn den Deckel am stumpfen Ende des Eis wegzuraspeln. Der Eizahn ist ein Sporn auf dem Schnabel, den es eigens für den Schlupf ausgebildet hat. Das Wegraspeln des Eideckels kostet Kraft, das Küken legt immer wieder Pausen ein. Allmählich arbeitet es sich jedoch ins Freie vor. Die Elterntiere, die das Nest weiter bebrüten, unterstützen es, indem sie von außen immer wieder Teile der Eischale wegknabbern.

Anders als ausgewachsene Bartgeier, die ihrem hakenförmigen Schnabel und den rötlichen Brustfedern fast ein wenig furchteinflößend wirken, ist so ein Bartgeier-Küken richtig putzig. "Das liegt natürlich daran, dass es so klein ist, dass es in eine Männerhand passt, und gerade mal 150 Gramm wiegt" sagt der Biologe Toni Wegscheider, der das Auswilderungsprojekt leitet. Dazu kommt das Erstlingskleid aus grauen Flaumfedern. Es gibt dem Küken etwas Zartes, Luftiges. Beim Schlupf sind die Flaumfedern nass. Sie trocknen aber schnell, zumal Bartgeier ihren Horst immer so anlegen, dass er vor Schneefall oder Regen geschützt ist.

Bartgeier-Küken fressen ausschließlich Aasfleisch

Das Küken ist freilich von Anbeginn ein richtiger Greifvogel. "Es muss sofort nach seiner Nahrung schnappen", sagt Wegscheider. "Anders als bei anderen Vogelarten, bei denen der Nachwuchs nur den Schnabel weit aufreißt und die Elterntiere in ihn die Nahrung hineinstopfen, halten die Bartgeier ihrem Jungen das Fressen nur hin, es muss sich es dann selbst holen." So ein Bartgeier-Küken frisst ausschließlich Aasfleisch. Die Elterntiere schaffen es in großen Brocken heran und zerkleinern es dann schnabelgerecht in erbsengroße Stückchen.

Und was ist mit dem zweiten Ei des Bartgeier-Paares? Das Weibchen hat es am 18. Januar - eine Woche nach dem ersten Ei - in den Horst gelegt. "Das Ei ist vor einigen Tagen zerbrochen, das Paar hat es offenbar aussortiert", berichtet Tiergarten-Vizechef Beckmann. "Wir gehen davon aus, dass es nicht befruchtet war." Der Biologe Wegscheider äußert sich ähnlich. "Es kommt immer wieder mal vor, dass ein Ei in einem Horst nicht befruchtet ist", sagt er. "Wenn es dann dennoch bebrütet wird, setzen durch die Wärme in seinem Inneren Fäulnisprozesse ein." Die Folge: Das Ei stinkt nicht nur "immer "fürchterlicher", wie Wegscheider sagt. "Sondern es wird auch immer poröser, bis es zerbricht."

Das zweite Ei ist ein Versicherungsei. Falls dem ersten was passiert

Wegscheider nimmt den Ausfall gelassen. "Das zweite Ei war ja nur ein sogenanntes Versicherungsei", sagt er. "Das Weibchen hat es einzig für den Fall gelegt, dass nichts aus dem ersten wird. Denn dann bekommt das Paar mit einer Woche Verzögerung doch noch ein Küken, die Mühen der Brut waren nicht vergeblich." Mit dem Versicherungsei hat es die Natur so eingerichtet, dass sich die Aussichten auf den Bruterfolg verdoppeln. Denn so eine Brut im Hochwinter ist ja extrem riskant - die Greifvögel leben in freier Wildbahn ja in großen Höhen, wo zu dieser Zeit Schnee, Eis und tiefe Minusgrade herrschen.

Eine andere Besonderheit der Bartgeier ist der obligate Kainismus. "Sollten doch einmal aus beiden Bartgeier-Eiern Küken schlüpfen, bringt das erstgeborene, das eine Woche Vorsprung hat und entsprechend stärker ist, in jedem Fall das zweitgeborene um", erklärt Wegscheider, "zum Beispiel indem es das schwächere aus dem Horst drängt, ihm das Futter wegschnappt oder solange auf es einhackt, bis es an den Verletzungen stirbt." Der Grund für den obligaten Kainismus ist der gleiche wie für das Versicherungsei. "Die Bedingungen für die Aufzucht des Nachwuchses im Hochwinter sind in freier Wildbahn so extrem, dass das Elternpaar mit zwei Küken komplett überfordert wäre", sagt Wegscheider. "Durch den Kainismus erhöhen sich die Überlebenschancen des Erstgeborenen beträchtlich, das ist es, was für den Erhalt der Art zählt."

Den Kainismus würde es auch im Tiergarten Nürnberg und den anderen Zoos geben, die Bartgeier halten. Dort setzt ihn freilich der Mensch außer Kraft. Falls dort ein Bartgeier-Paar beide Eier ausbrütet, holen die Tierpfleger das zweitgeborene Küken aus dem Horst, bevor es das erstgeborene attackieren könnte. Danach wird es einem anderen, kükenlosen Bartgeier-Paar zur Aufzucht übergeben. Und zwar in aller Regel mit großem Erfolg.

Zur SZ-Startseite
Bartgeier aus Nürnberg zieht vielleicht in die Alpen

SZ-Serie: Vogelwuid - Ein Geier zieht aus
:Eine ausgerottete Spezies kehrt zurück nach Bayern

Der Landesbund für Vogelschutz will drei Bartgeier im Nationalpark Berchtesgaden auswildern, einer davon soll Anfang März in Nürnberg schlüpfen. Die "Süddeutsche Zeitung" begleitet das Großprojekt.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: