Einen Schnitt ins Gehirn zu setzen, um in etwa zehn Zentimetern Tiefe eine Elektrode zu platzieren, das stellt sich der Laie als kompliziert vor. Dabei ist es gar nicht die Operation selbst, die Ärzte als Herausforderung bezeichnen. „Die hauptsächliche Arbeit liegt in der akkuraten Planung, in der Präzision bei der Vorbereitung des Eingriffs“, sagt Dorothee Mielke. Es kommt auf den Millimeter genau an, wo im Gehirn die Elektrode schließlich sitzt – etwa um Patienten mit Parkinson oder Tremor-Erkrankungen, die an unwillkürlichen, zitternden Bewegungen eines Körperteils leiden, wieder zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Am Universitätsklinikum Augsburg bietet die Neurochirurgie die sogenannte Tiefenhirnstimulation (THS) schon lange an. Aber erst seit etwa einem Jahr in Narkose, was eine erhebliche Erleichterung für Patienten ist, die zuvor während der Operation über viele Stunden wach bleiben mussten, um direkt die Auswirkungen des Eingriffs zu testen. Seit Dorothee Mielke von Göttingen aus in den Süden gewechselt ist und den Lehrstuhl sowie die Klinik für Neurochirurgie übernommen hat, ist das Uniklinikum eines von wenigen Zentren in Süddeutschland, das diese Operation unter Narkose anbietet. Die Professorin und ihr Oberarzt Philipp Krauß werben für die Methode, die vielen Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern hilft und aus ihrer Sicht noch immer unterschätzt wird – sei es aus Unkenntnis oder Angst vor einem Eingriff an dem sensiblen Organ.

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Die Tiefenhirnstimulation gibt es seit etwa 30 Jahren, früher musste sich der Patient die Operation „als Tortur“ vorstellen, so bezeichnet es zumindest Mielke. Die Ärzte kannten die Struktur des menschlichen Gehirns, sie wussten ungefähr, wo sie hin mussten mit den Elektroden – aber sie wussten es nicht individuell abgestimmt auf den Patienten. Also mussten diese teils neun Stunden oder länger wach bleiben, während die Ärzte operierten, während sie mehrere Elektroden ins Gehirn setzten, um sogleich testen zu können, wie der Patient reagiert, welche vielleicht unerwünschte Nebenwirkungen ausgelöst werden. „Das ist eine große Belastung“, sagt Mielke. Und verkompliziert den Eingriff: Der Patient benötigt eine Pause, vielleicht ihm wird übel, vielleicht gerät er in Panik. „All diese Risiken hat man nicht, wenn der Patient in Narkose ist.“ Die reine OP-Zeit beträgt heute am Uniklinikum in Augsburg nur noch zwei Stunden.
Die Angst vieler Patienten vor solch einer Operation ohne Narkose können Mielke und Krauß nachvollziehen. „Aber diese Angst ist heute nicht mehr notwendig.“ Heute erstellen Neurochirurgen vor der Operation hochauflösende Bilder vom Gehirn ihrer Patienten, es ist ihnen also möglich, exakt auf den Patienten abgestimmt zu planen, wo sie ihre Schnitte setzen und wo die Elektrode schließlich hin soll – mit einer Genauigkeit von einem Millimeter. Und ohne unerwünschte Nebenwirkungen.
Eine Elektrode ist in etwa so dick wie eine Kugelschreibermine, je nach Krankheitsbild setzen die Ärzte sie in verschiedene Zielgebiete. Dort stimulieren sie mit ihren Stromimpulsen Nervenkreisläufe, die je nach Erkrankung nicht normal funktionieren. Und beeinflussen so die Nervenzellaktivitäten, damit sie wieder rund laufen.

Viele Patienten mit Tremorerkrankung können dank der Elektrode in ihrem Gehirn zum Beispiel mit ihrer vormals zittrigen Hand plötzlich wieder ein Glas ruhig halten kann. Es gibt Epileptiker, denen die THS helfen kann, auch Patienten mit chronischen Schmerzen oder Zwangsstörungen. Nicht aber für alle Patienten mit diesen Krankheitsbildern, auch nicht für alle mit Parkinson, ist die Tiefenhirnstimulation geeignet. „Man muss die richtigen Patienten finden“, sagt Mielke. Es gebe Konstellationen, von denen die Ärzte wüssten, dass Patienten nicht gut auf den Eingriff ansprächen.
Es wäre den Neurochirurgen aber wichtig, dass zumindest alle Patienten mit entsprechenden Leiden abgeklärt würden – was momentan nicht der Fall ist. Das liegt manchmal daran, dass Patienten gar nichts von der Methode wissen, manchmal auch daran, dass sie falsch von ihren Ärzten beraten werden. Oder weil sie Angst vor einer Operation am Gehirn haben.
Dabei haben viele Patienten schon eine lange Leidens- und Behandlungsgeschichte hinter sich. Die Tiefenhirnstimulation ist das invasivste anzuwendende Mittel, egal bei welchem Krankheitsbild. Zuvor werden zahlreiche andere Methoden versucht, um Patienten zu helfen. Das bedeutet aber auch, dass manche Patienten bereits viele Medikamente nehmen, mit vielen Nebenwirkungen, bevor sie sich bei Mielke und ihrem Team vorstellen. „Teilweise kann man die Medikamente nach der Operation um 50 bis 60 Prozent reduzieren und die Patienten so entlasten“, sagt Oberarzt Krauß.
Die Elektroden können die Ärzte mit einem Tablet steuern
„Nach einer OP, zum Beispiel bei einem Tremor, merken die Patienten die Wirkung sofort“, sagt Krauß. „Die sind teilweise richtig ergriffen.“ Die Elektroden, die das Leben wieder lebenswert machen sollen, sitzen dabei teils nur vier Millimeter entfernt von einer Nervenbahn. Bei solch einer Entfernung kann man mit Strom stimulieren, ohne Nebenwirkungen hervorzurufen. Nur 1,5 Millimeter Abstand wäre kritischer, auch deshalb betont Mielke so sehr, dass es auf Präzision ankommt.
Die Elektroden können Ärzte auch mit einem Tablet steuern, in Absprache mit den Patienten. So können sich Menschen behandeln lassen, die weit entfernt vom Uniklinikum wohnen oder die nicht mehr mobil sind – sie müssen sich nicht ständig im Krankenhaus vorstellen. Die Ärzte telefonieren dann per Videoschalte mit ihnen und verändern bei Bedarf den einen oder anderen Parameter: In welche Richtung strahlen die Elektroden aus, auf wie viel Milliampere stellen sie die Implantate im Gehirn ein? In einem gewissen Rahmen kann der Patient die Elektroden auch selbst einstellen.
„Der Patient leidet nach der OP unter keinen physischen Belastungen“, versichert Krauß. Die Elektroden sind von außen nicht sichtbar. Ähnlich wie beim Herzschrittmacher werden die Batterien, die mit den Elektroden per Kabel verbunden sind, in der Brust oder im Gesäß implantiert. Einige Patienten sprechen deshalb auch von ihrem „Schmerzschrittmacher“. Krauß nennt die Tiefenhirnstimulation eine Methode, in der viel wissenschaftliche Entwicklung und Zukunft liege. Und die Möglichkeit biete, neue Therapiefelder zu erschließen und somit weitere Arten chronischer Schmerzen oder andere neurologische sowie psychiatrische Leiden zu behandeln.