Therapie mit Drogenersatzstoff Methadon:Zusteuern auf den Totalabsturz

Therapie mit Drogenersatzstoff Methadon: Andreas Baumert hat von seiner Ärztin bisher immer die Methadon-Tabletten für die ganze Woche verschrieben bekommen. So war es ihm möglich, jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu gehen.

Andreas Baumert hat von seiner Ärztin bisher immer die Methadon-Tabletten für die ganze Woche verschrieben bekommen. So war es ihm möglich, jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu gehen.

(Foto: Mittler)

Mit neun der erste Vollrausch, mit 16 der erste Schuss Heroin: Andreas Baumert hat eine lange Drogengeschichte hinter sich. Seit er mit dem Ersatzstoff Methadon behandelt wird, läuft sein Leben wieder in geraden Bahnen. Doch nun droht die Behandlung wegzubrechen - die Ärzte haben Angst, gegen das Betäubungsmittelgesetz zu verstoßen.

Von Dietrich Mittler

"Ende Gelände! Mag nimmer!" Sehr viel mehr steht nicht in der Kurzmitteilung von Andreas Baumert an seine Mutter. Einige Tage nach dieser Mail sitzt der 40-Jährige in seiner Wohnung in Niederbayern und lässt seine schwieligen Hände matt auf die Tischplatte fallen. "Ich steuere auf einen Totalabsturz zu", sagt er, "am 31. Dezember ist es vorbei." Baumert ist suchtkrank, und alles, was ihm die letzten Jahre heilig war - seine drei Kinder, die Arbeit, seine unauffällige bürgerliche Existenz - steht nun auf dem Spiel.

Dass Baumert (Name geändert) heute als verlässlicher Mensch gilt, verdankt er dem Drogenersatzstoff Methadon. Doch nun droht die Behandlung wegzubrechen: Nachdem in Niederbayern einer Substitutionsärztin die Approbation entzogen wurde, wollen die meisten ihrer elf Kollegen aufhören - so auch Baumerts Ärztin Irmengard Schoder aus Schöfweg im Kreis Freyung-Grafenau.

"Ich habe die Begründung lesen können, warum meiner Kollegin die Approbation entzogen wurde, und die empfinde ich als Hohn auf unsere ärztliche Tätigkeit und als menschenverachtend den Substitutionspatienten gegenüber", sagt Schoder. Auch sie hat bereits einen Anruf von der Polizei bekommen, sie habe ein Rezept falsch ausgefüllt und damit gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen.

Die Ermittlungen wurden zwar eingestellt: "Aber das hat mir gezeigt, wie schnell man als Substitutionsarzt in die Fänge der Staatsanwaltschaft gerät", sagt die 58-Jährige. Die Kollegin, über die nun das Berufsverbot verhängt wurde, hatte drei Patienten Substitutionsmittel verschrieben, obwohl diese weitere Betäubungsmittel konsumierten. Das ist dem Gesetz nach nicht erlaubt. Wissenschaftlich aber sei längst belegt, dass es sinnvoller sei, solche Patienten dennoch zu substituieren, sagt Schoder. Die Denkweise der Justiz habe aber auch gar nichts mit jener der Ärzte zu tun, und die Umsetzung des Betäubungsmittelgesetzes gehe in Bayern völlig an der Realität vorbei. Daraus ziehe sie ihre Schlüsse: "Ich höre am Jahresende mit der Substitution definitiv auf."

Insgesamt 50 Substitutionspatienten werden bislang noch in der ländlichen Gemeinschaftspraxis in Schöfweg behandelt. 450 Substitutionspatienten gibt es in Niederbayern insgesamt. Einmal die Woche nehmen etliche dieser Suchtkranken mit dem Bus einen weiten Weg auf sich, um zu Irmengard Schoder zu gelangen - einer von ihnen ist Andreas Baumert. Als ihm die Ärztin ihre Pläne mitteilte, sprach er die Schicksalsgenossen im Bus an. Man müsse einen Verein gründen, um auf die gemeinsame Not hinzuweisen. Bei den Jüngeren stieß er auf Desinteresse, bei den Älteren auf Angst. Und die ist nicht unbegründet: "Die Menschen sind hier konservativ", sagt Baumert. Einmal hatte er einer Kindergärtnerin vor Jahren von seinem früheren Drogenkonsum erzählt. Das machte unter den Eltern die Runde: "Kein einziges Kind ist zur Geburtstagsfeier meiner damals vierjährigen Tochter gekommen."

Jeder Entzugsversuch ist sinnlos

Doch die Sorge, bald kein Methadon mehr zu bekommen und die Arbeit, die Wohnung und damit den mühsam wieder aufgebauten Kontakt zu den Kindern zu verlieren, ist größer. Baumert schrieb Mails an Ärzte-Organisationen, die stets betonen, wie wichtig doch die Substitutionstherapie ist: an die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) sowie an die Landesärztekammer etwa. Darin beschrieb er, wie sich bei ihm vor gut zehn Jahren "negativen Sozialprognosen zum Trotz" das Leben zum Positiven gewendet habe. Und wie ihm nun der Boden unter den Füßen weggezogen werde. Eines der Schreiben endete so: "Bitte, bitte helfen Sie mir, wenn es Ihnen irgendwie möglich ist!"

Auf diese Mail erhielt Baumert rasch Antwort. Man wolle gerne seine "Zeilen anonymisiert als Argument in der politischen Diskussion um das Thema Substitution verwenden". Baumert ist fassungslos: "Die sehen mich nicht als Einzelperson, deren Existenz in wenigen Tagen vor dem Aus steht", sagt er. Für ihn steht mittlerweile fest: "Ich bin ein gewollter Kollateralschaden, der passieren soll, damit die Politik unter Druck kommt." An alle Verantwortlichen habe er sich jetzt gewandt - und was komme dabei unter dem Strich heraus? "Gute Wünsche für die Zukunft."

Nun quält ihn der Gedanke, dass er von Januar an kein Methadon mehr bekommt - zumindest nicht die Sieben-Tage-Ration à 100 Milligramm, die es ihm bislang ermöglicht, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. "Das ist recht hoch dosiert", sagt er, "es war aber auch so gedacht, dass ich für mein Leben lang auf dieses Medikament eingestellt bleibe." Baumert hat es schriftlich, dass angesichts seiner langjährigen Opiatabhängigkeit "eine längere Suchtmittelfreiheit" nicht zu erwarten sei - auf gut deutsch: Jeder Entzugsversuch ist sinnlos und sogar mit "schwerwiegenden" gesundheitlichen Beschwerden verbunden.

Seit 17 Jahren wird Baumert mittlerweile mit Methadon behandelt - mit Unterbrechungen in der Haft. So kennt er den Unterschied zum Heroinentzug: "Der ist zwar grob, aber nach sieben Tagen vorbei." Der letzte Methadonentzug dauerte bei ihm hingegen vier Monate, und danach fühlte er sich wie ein Wrack. Vor allem aber kam dieser Drang zurück, den die Fachleute als "Opiathunger" bezeichnen. "Was ich jetzt am meisten fürchte, ist meine schlafende Suchtpersönlichkeit", sagt er. Es falle ihm schwer, das zu beschreiben. "Der Suchtdruck, das ist der innere Wolf, der einen beißt", sagt er schließlich, "ich muss nur irgendwo einen Löffel liegen sehen, der ein bissl braun ist, und schon geht es los."

Baumerts Bilanz unter seine Suchtkarriere fällt schonungslos aus - schonungslos auch gegen sich selbst: Jahrelang habe er seine schwere Kindheit mit einem Trinker als Vater wie einen Schutzschild vor sich hergetragen, um sich das eigene Verhalten nicht anschauen zu müssen: "In meiner Verantwortungslosigkeit habe ich immer gesagt: Ich bin nicht schuld", gesteht er heute ein. Dann erzählt er seine Geschichte: Kurz bevor er eingeschult wurde, diagnostizierten Ärzte bei ihm das "Zappelphilipp-Syndrom" - heute als ADHS bekannt. "Es wurde angeraten, mich mit Lexotanil zu behandeln", sagt Baumert. Inzwischen warnen Apotheker vor der suchtfördernden Eigenschaft dieses Mittels. Baumert hat die Worte immer noch im Ohr: "Hast Kopfweh? Da hast du eine Tablette. Bist traurig? Kriegst eine Tablette."

Mit neun der erste Vollrausch

Mit neun Jahren hatte er den ersten Vollrausch, mit 13 kaufte er sich sein erstes Haschisch. Mitglieder eines Motorradklubs fanden ihren Spaß an dem Buben, der irgendwo dazugehören wollte. Ein Gang-Mitglied gab ihm Codeinsaft, als sich Baumert mit einer Bronchitis herumquälte. Die Schmerzen waren sofort weg, und der 15-Jährige fühlte sich so leicht - "als hätte mir jemand Kilosäcke von den Schultern genommen". Rasch aber war die Flasche leer, und für die nächste musste er zahlen.

Zum 16. Geburtstag bekam er seinen ersten Schuss Heroin gesetzt - angeblich als Geschenk, doch bald darauf war er der billige Handlanger seines Dealers. Seinen Stoff finanzierte er durch Diebstähle, immer wieder saß er in Haft: in Bernau, Augsburg, Memmingen, Landshut, Stadelheim - am Ende gut fünf Jahre Knast und die Erkenntnis: So geht es nicht weiter.

"Wenn ich meine Nachbarn oder meinen Chef fragen würde, ob sie sich das bei mir vorstellen könnten, würden die mit dem Kopf schütteln", sagt Baumert. Das verdanke er allein dem Methadon, das ihm endlich den Kopf frei mache für das wirkliche Leben. Nun aber drohe alles in sich zusammenzubrechen. Seiner Ärztin will Baumert keine Vorhaltungen machen. "Sie hat mir bis jetzt immer geholfen", sagt er.

Schoder weiß um die schier aussichtslose Lage ihrer Patienten: "Die Kollegen nehmen derzeit keinen mehr auf, auch die Institutsambulanz in Regensburg hat einen Aufnahmestopp für Methadon-Patienten erlassen." Substitutionsärzte in München haben kürzlich nach Informationen aus der Landesärztekammer beschlossen, Methadon-Patienten aus Niederbayern abzuweisen. "Alle Praxen sind übervoll und verweisen im besten Fall auf den nächsten März", sagt Schoder. Doch dann ist es zu spät. "Wenn ich kein Methadon nehme, fange ich nach zwölf Stunden zu schwitzen an, am zweiten Tag geht der körperliche Entzug los, und dann beginnt der Suchtdruck", sagt Baumert.

Hinter den Kulissen wird derzeit hektisch verhandelt. Hohe Ärztefunktionäre haben einen Brief an den Generalstaatsanwalt in München geschickt - mit der Bitte, im Dialog auszuloten, "wie wir bei der Methadonversorgung mehr Rechtssicherheit für die behandelten Ärztinnen und Ärzte erlangen können". Das Gesundheitsministerium indes will die örtlichen Gesundheitsämter dazu motivieren, Substitutionsärzte in Problemfällen verstärkt zu beraten, statt gleich strafrechtliche Schritte einzuleiten. Vergangene Woche fand deshalb im Ministerium ein Treffen statt, an dem auch Substitutionsärzte aus Niederbayern teilnahmen. Ziel ist, möglichst viele von ihnen zum Weitermachen zu bewegen. KVB-Chef Wolfgang Krombholz sagt, man sei da auf einem guten Weg. Doch sicher ist im Moment nichts. Andreas Baumerts Mutter ist verzweifelt.

In einer Mail an die Süddeutsche Zeitung schrieb sie: "Will die Regierung, dass mein Sohn stirbt? Noch lebt er!"

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: