Musical:Geschichte wiederholt sich

Musical: Unschuldig in Haft: Unerschütterlich kämpft die Gattin (Fabiana Locke) für ihren Ehemann Leo Frank (Alejandro Nicolas Firlei Fernandez).

Unschuldig in Haft: Unerschütterlich kämpft die Gattin (Fabiana Locke) für ihren Ehemann Leo Frank (Alejandro Nicolas Firlei Fernandez).

(Foto: Marie Liebig)

Das Stadttheater Regensburg bringt das Musical "Parade" heraus - ein Stück über Antisemitismus und einen Lynchmord in den USA im Jahre 1915.

Von Egbert Tholl

Georgia, 1913. Leo Frank, geboren in Brooklyn, war seiner Frau Lucille in die Südstaaten der USA gefolgt, nach Atlanta. Dort leitet er eine Bleistiftfabrik, bis das Unheil über ihn hereinbricht. Ein Mädchen, Mary Phagan, wird in der Fabrik, in der sie arbeitete, vergewaltigt und ermordet. Sie war 14. Erst sucht man noch nach dem Mörder, dann einigt man sich auf einen Unschuldigen: Leo Frank. Er ist Jude, er kommt aus der Großstadt, er ist gebildet. Nicht einer von den Südstaatlern. Zeugen werden manipuliert, manche Zeitung hetzt. Frank wird zum Tode verurteilt.

Seine Frau Lucille glaubt an seine Unschuld, überzeugt den Gouverneur, der selbst Nachforschungen anstellt. Und die Falschaussagen aufdeckt. Er begnadigt Frank zu lebenslang. Der Mob tobt. Holt Frank aus dem Polizeigewahrsam und hängt ihn in Mary Phagans Geburtsort Marietta. Angeblich ist dies, 1915, der einzige Lynchmord an einem Weißen. Jahrzehnte später wird der wahre Täter entlarvt. Es war der Hausmeister. Leo Frank erhält eine posthume Begnadigung, rehabilitiert wird er nicht.

Regensburg, 2023. Der Produktionsdramaturg Ronny Scholz leitet im Theater Regensburg eine Einführungsveranstaltung; der Saal ist voll. Am Samstag ist hier Premiere von "Parade", einem Musical, das 1998 am Broadway in New York herauskam; die Musik und die Songtexte stammen von Jason Robert Brown, das Buch schrieb Alfred Uhry. Das Stück erhielt diverse Preise (darunter Tony Awards für das Buch und die Musik), tourte durch die USA, lief auch in London.

Die Regensburger Produktion firmiert, in der Übersetzung von Wolfgang Adenberg, als deutschsprachige Erstaufführung. Was nicht ganz richtig ist: 2017 brachte es das Freie Musical-Ensemble Münster zum ersten Mal auf Deutsch heraus. Sebastian Ritschel, der Regensburger Intendant, wollte "Parade" eigentlich schon 2020 zeigen, damals war er Operndirektor an den Landesbühnen Sachsen. Dann kam Corona.

Ronny Scholz erzählt. Viel von dem historischen Fall, von den Hintergründen. Die Südstaaten der USA hatten sich noch nicht von der Niederlage im Bürgerkrieg erholt, die Sklaverei war verboten (Lynchen eigentlich auch, interessierte aber nicht), die Armut war groß. Oft mussten Kinder arbeiten, wie auch in der Bleistiftfabrik. Der New Yorker Jude war für viele also nicht nur fehl am Platz, er galt auch noch als Ausbeuter - zu dem man die eigenen Kinder aber gern schickte, damit wenigstens die etwas verdienten. Während Scholz erzählt, muss man immer wieder an "Hexenjagd" von Arthur Miller denken, das Stück, das einen historischen Fall vom Ende des 17. Jahrhunderts erzählt, aber die McCarthy-Ära und Fanatismus jeglicher Art meint. Verblendung der Masse.

Nach dem Vortrag kann man den zweiten Teil der Aufführung in einer Probe erleben, mit Orchester, ohne Kostüme, aber im Bühnenbild von Sam Madwar. Natürlich kann man nach einem Durchlauf nur des zweiten, kürzeren Teils nicht auf die Gesamtwirkung schließen. Ein paar Sachen werden dennoch deutlich.

Musical: Der Mob formiert sich: Alejandro Nicolas Firlei Fernandez als Leo Frank vor Ensemble und Chor.

Der Mob formiert sich: Alejandro Nicolas Firlei Fernandez als Leo Frank vor Ensemble und Chor.

(Foto: Marie Liebig)

Regisseur Simon Eichenberger vertraut der Kraft der Geschichte, erzählt diese in der Zeit von 1913 bis 1915. Es braucht auch keine gewaltsame Modernisierung (siehe "Hexenjagd", da gilt das auch), das Stück taugt allemal zur zeitunabhängigen Parabel. Und es ist rasant, die Szenenwechsel gelingen wie von Zauberhand, mal friert eine Szene ein, ein andere schiebt sich herein, verschwindet wieder, die erste geht weiter. Und, auch wenn es sich verbietet, nach einer Probe über die Darstellenden zu schreiben: Die haben hier ein echtes Soulwunder, Louisa Heiser, die als Hausangestellte auftritt. Und Fabiana Locke ist eine unerschütterliche Gattin, die für ihren Mann kämpft und ihm auch noch ein paar Lehren in Emanzipation mitgibt. Nur: Der Mord an Frank, der erschüttert nicht. Das geht im Musical nicht.

Auch in der Musik nicht. Jason Robert Brown ist ein außerordentlich vielseitiger Komponist. Er kann Jazz, Dixie und Gospel, es gibt einen hervorragenden Blues aus einer Chain-Gang Gefangener heraus, er flicht kurz vor Franks Tod das "Schma Jisrael" hinein, erfindet einen patriotischen Südstaatenchor, bei dem es dann wirklich einmal sehr gruselig wird. Alles ist exakt, klar. Leider auch die Liebesduette zwischen Lucille und Leo, die im üblichen Musical-Sound daherkommen. Genretypisch. Kann man mögen. Muss man nicht.

Wer nun glaubt, die blitzsaubere Umsetzung eines 23 Jahre alten Musicals, das eine mehr als 100 Jahre alte, historische Begebenheit aufgreift, muss uns heute über das rein Künstlerische hinaus nicht kümmern, der sieht sich getäuscht. Derzeit läuft ein Revival von "Parade" am Broadway. Ende Februar berichteten die New York Times und andere amerikanische Medien von antisemitischen Demonstration vor dem Theater, bei denen auch Flaggen des National Socialist Movement zu sehen waren. Nazis am Broadway, die gegen ein Stück demonstrieren, von dem sie glauben, es zeige einen jüdischen Kinderschänder. Grauenhaft.

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