Süddeutsche Zeitung

Oberfranken:Was tun, wenn mitten im Ort eine Fabrik leer steht?

In Tettau hat die einst älteste Porzellanfabrik Bayerns dichtgemacht. Die 2000-Einwohner-Gemeinde sucht nach einer Idee, was anzufangen sein könnte mit dem riesigen Bau.

Von Olaf Przybilla, Tettau

Das Wort "ausgerechnet" gehört zu den überstrapazierten der deutschen Sprache, aber im oberfränkischen Tettau ist es in diesen Tagen nur schwer zu umgehen. Das hat mit Alexander von Humboldt zu tun, dessen 250. Geburtstag heuer überall auf der Welt gefeiert wird, schon deshalb, weil der Naturforscher verdammt viel gesehen hat von der Welt. Vergessen wird dabei gelegentlich, dass sein Weg um ein Haar bereits in Oberfranken zu Ende gewesen wäre und das im zarten Alter von 27 Jahren.

Wäre Humboldt bei einem verwegenen Selbstversuch in einem oberfränkischen Bergwerksschacht ums Leben gekommen, so wäre 2019 gewiss nicht zum Humboldt-Jahr ausgerufen worden. Und dann wäre in diesem Jahr sicher auch keine Gedenktafel in Tettau zu seinen Ehren enthüllt worden - dort also, wo der junge Spitzenbeamte vom preußischen Hof 1793 maßgeblich bei der Gründung einer Porzellanmanufaktur mitgewirkt hat, die es als "Königlich Privilegierte Porzellanfabrik Tettau" zu Weltruhm bringen sollte.

Es kam aber anders. Humboldt überlebte seinen haarsträubenden Versuch in einem fränkischen Stollen, wenn auch bewusstlos. Ein Forscherkollege rettete den Ohnmächtigen aus einem Schacht in Berneck, wo sich der junge Forscher und Bergbaumeister 1796 nicht davon hatte abbringen lassen, einen selbstentwickelten "Lichterhalter" zu testen. Bleibende Schäden wegen Sauerstoffmangels zog er sich dabei offenbar nicht zu. Und so hielt ihn drei Jahre später nichts davon ab, ein positives Gutachten für eine Manufaktur in Tettau zu erstellen, das diese erst instand setzte, genügend Brennholz zugeteilt zu bekommen. Humboldt wurde zum Geburtshelfer der ältesten Porzellanfabrik im heutigen Bayern. Einer Fabrik, die berühmt werden sollte für das strahlende Weiß und die zarte Durchsichtigkeit ihrer Produkte - und für hochwertiges Künstlerporzellan.

2019 hätte also ein großes Jahr werden können in der Historie des Ortes Tettau. Es wurde aber ein äußerst trauriges. Das Jahr wird nun als jenes in die Geschichte der Gemeinde im Landkreis Kronach eingehen, in dem das königlich privilegierte Werk für immer geschlossen werden musste. Ausgerechnet 2019. Die Schautafel für Alexander von Humboldt, kürzlich erst enthüllt? Ist jetzt eher ein Mahnmal geworden.

Warum diese Geschichte keinen landesweiten Aufschrei zur Folge hat? Nun, am Ende waren im Werk Tettau nur noch etwas mehr als ein Dutzend Mitarbeiter tätig, einst waren es fast 50 Mal so viele. Aufrecht erhalten wurde dort nur noch ein kleiner, aber beliebter Werksverkauf. Als sich selbst der nicht mehr wirtschaftlich darstellen ließ, wurde das Werk vor ein paar Wochen zugesperrt. Natürlich, es gibt noch Porzellan aus der Firmengruppe Seltmann Weiden, die das Tettauer Werk 1957 übernommen hatte. Aber Seltmann produziert und verwaltet nun vor allem von Weiden und Rudolstadt aus, Tettau dagegen habe man nach langem Kampf aufgeben müssen, sagt der Prokurist Uwe Motzke. Dass ihn das schwer trifft, ist ihm unschwer anzumerken. Er selbst hat Jahre lang in Tettau gearbeitet, "es tut weh", sagt er.

Aber Motzke zögert auch nicht, aus dem Stegreif all die Gründe aufzuzählen, warum es so weit hat kommen müssen. Man müsse nur denken an all das "Billiggeschirr aus Fernost, das den Markt überströmt", formuliert er. Oder auch die veränderten Lebensformen, die Zunahme von Singlehaushalten: "Junge Leute schauen am Tisch mehr aufs Handy als auf das Tischgeschirr", glaubt Motzke beobachtet zu haben. "Und wenn das Geschirr kaputt geht, dann wird halt neues gekauft." Gerne auch aus schwedischen Möbelhäusern. Und in den Innenstädten? Da schließen die Fachgeschäfte, in denen man früher das schöne Geschirr für die Aussteuer gekauft hat. Überhaupt die Aussteuer. Gibt's in der früheren Form - Geschirr fürs Leben - so auch nicht mehr. Bundesweit arbeiteten mal 30 000 Menschen in der Porzellanbranche. Heute etwa ein Zehntel davon.

Eine soziale Katastrophe für Tettau? Bürgermeister Peter Ebertsch holt tief Luft. Jeder Arbeitsplatz ist wichtig, "da hängen ja Einzelschicksale dran", sagt er. Aber Tettau ist auch nach dem über Jahrzehnte sich hinziehenden Dahinscheiden des Porzellanwerks immer noch einer der industrialisiertesten Orte in Bayern. Auch jetzt noch haben sie dort, gleich an der ehemaligen "Zonengrenze", fast ebenso viele Industriearbeitsplätze wie Einwohner.

Vor allem die Glasindustrie bietet Jobs, wer Arbeit sucht, der finde im dem 2000-Einwohner-Ort noch immer ein sehr gutes Angebot, ist Ebertsch überzeugt. Und trotzdem liegt ihm das endgültige Aus für das Porzellanwerk im Magen. "Mehrmals am Tag" denke er darüber nach, was nun mit dem Werk mit seinen mehr als 14 000 Quadratmetern Fläche werden soll. "Eine riesige Hausnummer", sagt Ebertsch, "Leute mit Patentrezept sind herzlich willkommen". Bisher hat sich noch keiner gemeldet.

Man muss sich dem Werk von Süden aus durchs schmale Tal der Tettau nähern, um das Problem des Bürgermeisters halbwegs nachvollziehen zu können. Wo andere Orte einen Marktplatz haben, da steht in Tettau ein kolossales Industriedenkmal. Rein darf da keiner mehr, der Anblick sei "zu frustrierend", sagt Prokurist Motzke.

Was das für die Tettauer bedeutet? Irene Reuter hat 26 Jahre lang im Werk gearbeitet, "es tut mir in der Seele weh", sagt sie. Natürlich: Dass unrentable Werke geschlossen werden, ist so ungewöhnlich nicht, das weiß auch die 80-Jährige. "Aber wir Tettauer sehen jeden Tag dieses verlassene Werk oder mindestens einen Schornstein davon, egal, wo wir wohnen", sagt sie. Für die vielen, die am Hang über dem Tal leben, dominiert das leer stehende Werk jeden Blick aus dem Fenster. Keine tausend Einwohner zählt der Kernort Tettau, bis zu 600 Beschäftigte gingen dort mal zur Arbeit. Nach dem Krieg beinahe alle. "Wir waren ja von drei Seiten vom Stacheldraht umzäunt", erzählt Reuter. Westen, Norden, Osten, überall Grenze. Nicht umsonst habe Tettau als "letzter Zipfel Bayerns" gegolten. Ein Auto wiederum "hatten damals nur Pfarrer und Lehrer". Also ging man zum Arbeiten ins Tal. Zur "Königlichen".

Irene Reuter schluckt. Eine Verwandte, erzählt sie, habe immer gesagt: Kaffee aus einem Tässchen schmecke besser als aus einem Topf. Sie selbst hält das immer noch für wahr. Aber was bringe das schon?

Der Bürgermeister weiß nur eines: "Harakiri machen wir nicht!" Will heißen: So, wie es jetzt aussieht, wird die Gemeinde die Immobilie nicht kaufen. "Wir werden den Ort nicht ins Verderben stürzen", sagt Ebertsch. Bis zu zehn Millionen Euro, sagen Gutachter, könnte ein Abriss kosten. Und danach? Ist ja keinesfalls gesichert, dass sich genug Menschen für eine neue Immobilie am Rennsteig interessieren, in einem engen Tal ein paar hundert Meter vom früheren Zonenrand entfernt.

So bleiben, wie es jetzt ist, kann es aber auch nicht, da ist sich der Bürgermeister sicher. Zumal ja jeder Grundstücksbesitzer "ein Recht auf Verwahrlosung" seiner Immobilie habe, sobald er die öffentliche Sicherheit nicht gefährde. Ein dauerhaftes Mahnmal also mitten im Ort? Das wolle man unbedingt vermeiden, sagt Ebertsch. Im September wollen sich Gemeinde, Landkreis und Regierung mit Architekten zusammensetzten, zum "Brainstorming" wie Prokurist Motzke sagt. Ausgang völlig offen.

Sollte mal die Mauer fallen, dann werde es aufwärts gehen in Tettau - so haben sie das immer im Ort gesagt, erzählt Irene Reuter. Es kam anders. "Aber ich möchte nicht missverstanden werden: An der Wiedervereinigung liegt's nicht", beteuert sie. Woran dann? "So ist einfach der Lauf der Zeit."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4585992
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.09.2019/amm
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.