Süddeutsche Zeitung

Erste Transfrau im Landtag:Praxistest der Toleranz

Eine Transfrau im Landtag - das ist deutschlandweit einmalig. Viele Abgeordnete in Bayern reagieren positiv auf die Grüne Tessa Ganserer, aber es gibt auch Vorurteile.

Von Lisa Schnell

Markus Ganserer ist gerade wieder für die Grünen in den Landtag gewählt worden, aber betreten wird er ihn nie wieder. Ihm ist nichts passiert, er hat die Politik nicht verlassen - Markus Ganserer ist einfach nicht mehr da. Auf seinem Platz im Parlament, Reihe vier, Stuhl 69, sitzt jetzt eine Frau: Tessa Ganserer. Lange, blonde Haare statt Männerglatze, Make-up statt Bartschatten, Seidenbluse statt Holzfällerhemd. Für diesen Text posiert sie am Rednerpult für ein Foto. Da kommt Martin Hagen ins Plenum, Fraktionschef der FDP. Er sieht eine Frau vor der Kamera, hört ihre tiefe Männerstimme und fragt: "Was macht ihr hier für ne Nummer? Dragqueen?"

Es ist das eine, der Welt zu offenbaren, dass im eigenen männlichen Körper auch eine Frau wohnt. Das tat Tessa Ganserer vor acht Wochen, damals noch als Markus und in Hemd und Sakko. Es ist wieder etwas anderes, als Transfrau Politik zu machen, ohne Sicherheitsnetz, ohne noch eine Krawatte im Schrank. Ganserer, 41, will keine Teilzeit-Frau mehr sein, nicht nur bei Freunden und daheim ihre wahre Identität leben, sondern immer. Sie wird als Politikerin vor Kameras auftreten, bei Pressekonferenzen, offiziellen Empfängen. Aber vor allem wird sie im Landtag am Rednerpult stehen: eine Frau mit Männerstimme und Männerschultern, nur ein paar Meter entfernt von der AfD.

FDP-Mann Martin Hagen ist jung, hat ein offenes Weltbild. Einer, der in den Plenarsaal kommt, um einer Freundin zu zeigen, wo er bald sitzen muss - neben der AfD, richtig schlimm. Und der dann Tessa Ganserer sieht und dieses Wort sagt: "Dragqueen". Ganserer ist für eine Sekunde wie erstarrt. Dann fixiert sie Hagen und sagt: "Das ist eine Beleidigung. Ich verkleide mich nicht." Mit erhobenem Kopf kommt sie auf ihn zu, federt die Stufen vom Rednerpult herunter, als wäre sie in Absatzstiefeln geboren. Kurz vor Hagen bleibt sie stehen und lächelt: "Ich bin nicht nachtragend. Das kriegen wir schon hin." Übrigens gebe es mehr Intersexuelle als Rothaarige. "Ach was!", sagt Hagen.

Eine Transfrau im Landtag, das ist einmalig in Bayern, ja sogar in Deutschland. Wie einmalig, das kann Ganserer seit drei Wochen in den Gesichtern der Menschen lesen. Politiker sind da keine Ausnahme. Sie hat sich und ihren Landtagskollegen eine Schonfrist gegeben. Das politische Kalenderjahr schloss sie noch als Mann ab, das neue beginnt sie am Montag als Frau. Für sie ist es eine Befreiung, für die bayerische Politik so etwas wie ein Praxistest der Toleranz. Leben und leben lassen, das sagt sich leicht, nur: Wie sieht die Liberalitas Bavariae aus, wenn da wirklich mal jemand steht, der "anders" ist?

Ein Abend in Nürnberg, Eisenbahnempfang, in Fahrzeughalle II des Bahnmuseums stehen eine alte Lok, ein Bratwurstbüffet und viele Politiker, die Markus Ganserer kennen. Jetzt stehen sie Tessa gegenüber. Innenminister Joachim Herrmann sieht die hohen Schuhe, den Lippenstift. Er sagt: "Herr Ganserer". Kurze Stille in der Gruppe. "Frau Ganserer", sagt Frau Ganserer und Herrmann friert das Lächeln im Gesicht ein. "Entschuldigen Sie, ich wusste nicht", sagt er und dann immer wieder: "Das ist okay. Das ist okay." Ob er damit sich selbst oder Ganserer beruhigen will, ist nicht ganz klar. Ziemlich deutlich ist dagegen, dass er sich am liebsten in Luft auflösen würde.

Ganserer lächelt dann meist freundlich und hält ihre immer gleiche Rede mit dem Titel: "Transsexualität. Eine Einführung." Sie spricht sehr geduldig, aber mit großem Nachdruck. Manche ignorieren, dass da jetzt eine Frau steht und plaudern einfach wie immer. Das findet sie gut. Andere wählen die Frage "Wann wollen Sie sich operieren lassen?", als Einstieg für einen Small Talk. Nicht so gut. Ganserer weist höflich darauf hin, dass so eine Frage sehr intim ist. Sie ist nicht schnell beleidigt.

Vor acht Wochen sagte sie noch, sie sei beides: Tessa und Markus. Jetzt ist Markus nicht mehr da. Wo ist er hin? Tessa Ganserer streichelt langsam über den großen ovalen Ring an ihrer rechten Hand. "Ich war zu 100 Prozent sicher, dass ich eine Frau bin", sagt sie. Aber sie wollte 110 Prozent sicher sein. Sie wusste ja nicht, was ihr Outing mit ihr machen würde. Vor allem aber wusste sie nicht, was es mit der Welt machen würde. Um 19 Uhr erschien der erste Artikel über sie online. Um 19.05 Uhr hatte sie die erste SMS: "Bin total überwältigt und wünsche viel Kraft", so oder so ähnlich stand es da und so ging es weiter. Sie bekam E-Mails, Briefe, Telefonanrufe von Wildfremden aus ganz Europa. Es waren Menschen, denen es genauso geht wie ihr. Mit einigen hat sie bis jetzt Kontakt. Natürlich gab es auch Kommentare auf Facebook, "einfach nur pervers" oder "krank" stand da. Bedrohungen oder wüste Beleidigungen waren nicht dabei. Ganserer hat die Kommentare bewusst nicht gelesen, ihre Mitarbeiter haben sie sofort gelöscht. Im Landtag gratulierten ihr Abgeordnete aller Fraktionen außer der AfD zu ihrem Mut. Die Welt hat Tessa Ganserer mit Freude willkommen geheißen. So fühlte sich das an. Umso widersinniger kam es ihr vor, sich in die Rolle des Mannes zu zwängen. Markus wurde ihr immer fremder.

Am 23. November saß sie beim Psychiater. Drei Monate hatte sie auf einen Termin gewartet. Sie las die Diagnose des Arztes, eine nüchterne Kombination aus Zahlen und Buchstaben, die für sie das reinste Glück bedeutet: ICD-10 und F64.0 - Transsexualität und Leiden unter der falschen Geschlechterrolle. Jetzt hat sie es amtlich, schwarz auf weiß, mit Stempel sozusagen. Es waren die letzten zehn Prozentpunkte, die ihr noch fehlten, um 110 Prozent sicher zu sein, 110 Prozent Frau: "Das war für mich meine eigentliche Geburtsurkunde."

Es war Mittwoch, der 12. Dezember als Markus Ganserer für immer verschwand. Tessa Ganserer packte all seine Klamotten zusammen, die Hemden, die Cordhosen, die Krawatten. Sie stopfte sie in Tüten, gab sie einem Freund mit ähnlicher Statur und weg waren sie. In ein paar Minuten verschwand ein ganzes Leben. Der Abschied aber dauerte länger. Zehn Jahre lang war Ganserer zerrissen zwischen zwei Identitäten. Jetzt ist sie nicht nur Frau, sondern auch Mutter und Tochter.

Ihr Vater wurde 1936 in eine Welt geboren, in der es für Menschen wie sie keinen Platz gab. Er wohnt in Zwiesel im Bayerischen Wald. Als Ganserer im Fernsehen zu sehen war, sagten sie dort zu ihm: "I hob dein Buam gesehen, du woaßt scho als wos." Was würde er zu seiner neuen Tochter sagen? Es stellte sich heraus: nicht viel, er umarmte sie nur.

Ganserer hat zwei Söhne, elf und sechs Jahre alt. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder von ihr aus der Zeitung erfahren. Sie lange mit einem Geheimnis belasten, wollte sie aber auch nicht. Zehn Tage bevor Ganserer an die Öffentlichkeit ging, trat sie als Frau vor sie und sagte: "Ich bin jetzt immer so." Auf einmal keinen Vater mehr haben, dafür zwei Mütter, das muss doch mehr als schwierig sein für die Jungs. Das hört Ganserer oft. Sie selbst sagt: "Kinder sind unvoreingenommen. Wenn sich ihnen die Welt freundlich präsentiert, akzeptieren sie sie so wie sie ist." Als Vater ging Ganserer mit den Jungs in den Wald, Käfer und Würmer sammeln. Er war fürs Raufen zuständig, fürs in die Luft werfen. Und jetzt? Macht das eben die Mutter Tessa. "Pfeil und Bogen schnitzen kann ich auch als Frau", sagt sie.

Über ihre Ehe will sie nicht viel sagen. Nur so viel: Ihre Frau habe sich in den Menschen verliebt, nicht in das Geschlecht. Nur: Wenn alles gleich geblieben ist, was ist dann anders? Was macht sie zur Frau außer Perücke und Lippenstift? Mit Worten könne das kaum beschrieben werden, sagt Ganserer. "Es ist einfach ein wohliges Gefühl. Ich spüre mit jeder Faser, dass ich jetzt richtig lebe."

Wenn Ganserer übers Einkaufen spricht, sagt sie: "Was könnte es für eine Frau Schöneres geben?" Bietet ihr ein Freund einen zweiten Nachtisch an, interpretiert sie das als "Angriff auf meine Figur". Es sind Sätze, die sie früher nie gesagt hätte, gekünstelt klingen sie nicht. Ohne Perücke fühle sie sich mittlerweile nackt. Sie will, dass sie von außen immer mehr so wird wie von innen: eine Frau. Sie will ihre Stimme trainieren, um weiblicher zu klingen. Hormone? Eine Operation? Da ist er wieder, dieser fixierende Blick, wenn Ganserer ihre Grenzen absteckt: "Das ist meine Privatsache", sagt sie und kann auch noch deutlicher werden: "Für die Akzeptanz als Frau ist es vollkommen irrelevant, was ich in der Hose habe."

Ganserer erzählt der Welt nicht ihre Geschichte, weil sie so einen großen Geltungsdrang hat. Sie erzählt sie, weil sie Politikerin ist und meint, Menschen wie sie werden diskriminiert. Markus Ganserer will jetzt Tessa heißen. Die Entscheidung eines erwachsenen Menschen, komplizierter als eine Adressänderung bei einem Umzug sollte das nicht sein, um einen Namen im Personalausweis zu ändern. So sieht sie das. Zwei psychologische Gutachten (siehe den Hinweis am Ende des Artikels, d. Red.) - so sieht der Staat das. Rechtlich ist sie deshalb noch ein Mann. Der Nürnberger Verkehrsverband hat ihr trotzdem eine neue Kundenkarte zugeschickt. Bei der Sparkasse überlegen sie dagegen schon eine ganze Weile, wie sie mit ihrer neuen-alten Kundin umgehen sollen. Ganserer ist gespannt, wie das Landtagsamt auf sie reagiert. Die Bürger wählten einen Mann, jetzt sitzt eine Frau im Parlament. Am 9. Januar hat sie einen Termin mit Landtagspräsidentin Ilse Aigner.

Als sie vor ein paar Wochen nach dem Fototermin im Plenum durch den Steinernen Saal lief, schaute ihr ein AfD-Abgeordneter hinterher. Was er von Transgender-Politik hält, wollte er nicht sagen. Das sei nicht sein Spezialgebiet. Es ist das Spezialgebiet von niemanden bei der AfD. Einen queerpolitischen Sprecher haben sie nicht. Die Grünen wählten gerade ihre neue Sprecherin. Sie heißt Tessa Ganserer.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hießt es, neben den psychologischen Gutachten schreibe der Staat auch eine einjährige "Probezeit" als Frau vor. Eine Leserin wies uns darauf hin, dass dies so nicht korrekt ist. § 4 im deutschen Transsexuellengesetz enthält nur die Forderung nach den Gutachten. Eine Probezeit kommt im gesamten Gesetzestext nicht vor. Herzlichen Dank für den Hinweis, wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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Quelle:
SZ vom 05.01.2019/baso/cck
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