Tänzer trotz Kinderlähmung:Der bewegte Mann

  • Dergin Tokmak machte als Stix trotz Kinderlähmung Karriere als Tänzer.
  • Markenzeichen sind die Locken unter seinem Kopftuch und die rot-weißen Krücken.
  • Tokmak wuchs als Sohn türkischer Einwanderer in Augsburg auf.

Von Dietrich Mittler

Gut, das Leben könnte ruhiger sein, viel ruhiger sogar. Aber im Moment zieht Dergin Tokmak um, mit 41 Jahren in seine erste eigene Wohnung. Und zudem tritt er auch wieder als Tänzer auf Krücken auf, mit einer Solonummer bei Deutschlands größter Turnshow "Feuerwerk der Turnkunst". Heute Baumarkt, morgen Bühne - so kann man es auf eine Formel bringen. Tokmak sitzt entspannt in seinem Rollstuhl und lächelt. Wenn sich seine Mutter an ihren Sohn als kleines Kind zurückerinnert, dann hat sie ein ganz anderes Bild vor Augen. "Dergin war kein ruhiges Kind", so sagt sie vor laufender Kamera im mittlerweile preisgekrönten Film "Der hinkende Engel", den der Bayerische Rundfunk in der Reihe "Lebenslinien" ausgestrahlt hat.

Dergin Tokmak, unter diesem Namen kennen nur wenige Menschen den drahtigen Augsburger, der bereits im Alter von acht Monaten an Kinderlähmung erkrankte - nur jene, die ihm nahestehen. Vielen mehr ist er bekannt unter seinem Künstlernamen "Stix". Stix - das ist die phonetische Nachahmung des englischen Wortes "sticks" für Stöcke. Die vier Buchstaben stehen für einen Mann, der auf zwei rot-weiß gestreiften Krücken gestützt mit seinen gelähmten Beinen über die Bühne gleitet, plötzlich wie von einem Sturm in die Höhe katapultiert kopfüber in der Luft hängt und schließlich, wieder am Boden, seine beiden Gehstöcke so rasant kreisen lässt wie ein Samurai die Waffe im Schwertkampf. Einer, der als Teil seiner Show danieder sinkt, am Boden kauert und dann wieder aufsteht und weitermacht - so wie in seinem richtigen Leben auch.

Tänzer trotz Kinderlähmung: Schon als Kind konnte Dergin Tokmak nicht still sitzen. Dass er seinen Bewegungsdrang trotz der Lähmung heute ausleben kann, bedeutet ihm alles.

Schon als Kind konnte Dergin Tokmak nicht still sitzen. Dass er seinen Bewegungsdrang trotz der Lähmung heute ausleben kann, bedeutet ihm alles.

(Foto: Andreas Brücklmair)

Das Leben begann hart

"Es musste immer Action sein", beschreibt eine frühere Lehrerin diesen Dergin, den sie vor vielen Jahren im Unterricht kennengelernt hatte. In heutiger Zeit, so meint sie, würde man ihn als hyperaktiv bezeichnen. Das ist lange her. Wer Tokmak heute trifft - etwa auf einer großen Messe nach einem Auftritt -, der begegnet einem abgeklärten Mann mit warmen Augen, der Ruhe, ja fast Glück ausstrahlt. Zumindest ist es Dankbarkeit dafür, dass er seinen Traum leben kann. Auch wenn sein Leben einst hart begann: als körperbehindertes Kind von türkischen Gastarbeitern, aufgewachsen in einem Augsburger Arbeiterviertel, in dem die Jungs bisweilen zuschlugen, wenn ihnen jemand quer kam - oder auch nur den Anschein dazu machte.

Feuerwerk der Turnkunst

Auftritt in Oldenburg: Mit der Turnshow "Feuerwerk der Turnkunst" tourt Tokmak bis zum 25. Januar durch ganz Deutschland.

(Foto: Ingo Wagner/dpa)

Tokmak war einer von ihnen, wie er stolz sagt. Und doch war er ein ganz anderer. "Wenn mich einer blöd angemacht hat, weil ich behindert bin und irgendwie türkisch aussehe, dann habe ich das einfach nicht so an mich herangelassen." In seiner Welt spielte das keine Rolle, türkisch oder deutsch zu sein - oder was auch immer. In seiner Welt regierte der Tanz - erst allein getragen von der Kraft seiner Arme, ohne alle Hilfsmittel. Dann unter Einsatz der Krücken. Aber natürlich litt auch er wie viele andere Jugendliche mit türkischen Wurzeln darunter, hier wie dort nicht wirklich dazu zu gehören. "Wir lebten in einer Zwischenwelt", sagt er heute. Und doch, auch in dieser Zwischenwelt gab es so etwas wie eine Heimat, das Augsburger Jugendzentrum K 15 an der Kanalstraße, damals ein Treffpunkt der Augsburger Breakdancer-Szene mit Migrationshintergrund.

Tokmaks internationale Karriere mit einem sechsjährigen Engagement beim Cirque du Soleil, einer spektakulären Roadshow in Italien und dem aus Publicity-Erwägungen in Kauf genommenen Auftritt in der RTL-Show "Das Supertalent" - diese Karriere begann mit einem ebenso abrupten wie gut gemeinten Stoß, mit dem ihn sein Cousin auf die Tanzfläche beförderte. Und da stand er - der Junge mit den kurzen Haaren, der Kassenbrille und den Krücken - plötzlich in der Mitte, umringt von den Breakdancern des Jugendklubs. Da blieb nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken. Dergin Tokmak tanzte, wirbelte über den Boden und lachte. "Die Leute haben gejohlt und gekreischt", sagt er. Und in diesem Moment wusste er endgültig, was es heißt, geachtet und respektiert zu werden.

Warum nicht auf dem Broadway auftreten?

Der Kurzhaarschnitt der damaligen Tage ist lange passé, feste Locken quellen aus einem nach hinten offenen Kopftuch hervor - das gehört zur Marke "Stix" dazu. Nicht minder die Botschaft, die Dergin Tokmak über seine mittlerweile bereits vergriffene Biografie "Stix" verbreitet hat und immer noch in persönlichen Gesprächen und bei Auftritten verkündet. "Nur wenn du dich selbst akzeptieren lernst, nur wenn du dich selbst lieben lernst, kannst du auch anderen Menschen Liebe weitergeben", sagt er. Fast spielerisch lässt er dabei anklingen, dass das eine harte Aufgabe sein kann, die eigenen Schwächen, diese quälenden Defizite, anzunehmen.

Der Muskelmann als Philosoph, für eine solche Rolle fühlt sich der 41-jährige Augsburger aber viel zu jung. Zu stark ist noch der Drang zu tanzen, das Künstlerdasein auszukosten - und, warum nicht, vielleicht auch einmal auf dem Broadway aufzutreten. Zwar weiß Dergin Tokmak, dass für einen Tänzer die Lebensjahre von einem gewissen Alter an doppelt zählen - aber in den gelernten Beruf als technischer Zeichner wird er wohl auch dann nicht zurückkehren, wenn die Kraft einmal nachlässt. "Dann werde ich meine Kunst an junge Menschen weitergeben", sagt er, "und meine Botschaft lautet: Wenn du am Boden liegst, dann steh auf".

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