Die dritte Corona-Welle ist gebrochen, auch im Berchtesgadener Land sinken die Infektionszahlen. Doch die Pandemie überschattet die Auswilderung der jungen Bartgeier im Nationalpark Berchtesgaden, die die SZ in diesem Jahr begleitet. "In normalen Jahren ist eine Auswilderung ein großes Fest mit vielen Gästen", sagt Toni Wegscheider. Der Biologe leitet das Projekt des Landesbunds für Vogelschutz (LBV) zur Wiederansiedlung der mächtigen Greifvögel in Bayern. "Aber wegen Corona müssen wir uns auf ein überschaubares Programm beschränken." Inzwischen steht immerhin der Termin der Auswilderung. Die jungen Bartgeier werden am 10. Juni zu der Felsnische hoch über dem Klausbachtal gebracht. Dort verbringen sie noch einige Wochen, bis sie zu ihrem Jungfernflug abheben. "Aber ab 10. Juni ist Bayern wieder Bartgeier-Land", sagt Wegscheider und man kann sogar am Telefon hören, wie stolz er ist.
Wegscheider hat schon etliche Auswilderungen erlebt. "Ob in Kals am Großglockner, in Bad Gastein oder in Rauris, das waren immer Riesenevents mit 800 oder sogar noch mehr Besuchern", berichtet er. "Die Blaskapelle hat aufgespielt, es gab einen Bierausschank, einen Würstelstand und für die Honoratioren ein Buffet." Mitten in den Ortschaften, zumeist auf dem Marktplatz, stand ein großes Podest, auf dem die Greifvögel den Besuchern präsentiert wurden. "Das ist sicher Stress für die Vögel und die Projektleute, die darauf achten müssen, dass alles gut läuft", sagt Wegscheider. "Aber die Einheimischen und die Touristen, die Bürgermeister, die Gemeinderäte und andere Politiker, sie wollen natürlich alle die Bartgeier ganz aus der Nähe sehen, die in ihrer Heimat angesiedelt werden."
Zumal die Jungtiere sehr spektakulär sind. Sie sind schon so groß und schwer wie adulte Bartgeier. Und obwohl sie noch nicht fliegen können, beträgt ihre Spannweite bereits an die 2,90 Meter. Der einzige markante Unterschied betrifft das Federkleid: Das der Jungvögel ist schwärzlich-grau, während das der adulten Tiere an Brust und Hals rötlich eingefärbt ist und am Kopf hell. Außerdem fehlen den Jungtieren die markanten schwarzen Federn, die von den hakenförmigen Schnäbeln der Bartgeier nach unten abstehen. Sie haben allenfalls einen Bartflaum. Von dem Schmuck hat die Art, die auf Lateinisch Gypaetus barbatus heißt, den Namen.
Bartgeier waren einst weit verbreitet in den Alpen. Doch den Aasfressern haftete der Irrglaube an, sie machten Jagd auf Schafe und sogar Kleinkinder. Deshalb wurden die Greifvögel gnadenlos gejagt. 1906 wurde der letzte in Österreich abgeschossen. Erst in den Achtzigerjahren begann ihre Wiederansiedlung. Im Alpenzoo in Innsbruck züchtete man junge Bartgeier heran, die ersten wurden 1986 im Nationalpark Hohe Tauern ausgewildert. Bald folgten Freilassungen im Mont-Blanc-Gebiet und am Ortler in Südtirol. Inzwischen leben wieder ungefähr 300 Bartgeier in den Alpen. Nun folgt Bayern. Das Projekt im Nationalpark Berchtesgaden ist Teil des Lückenschlusses zwischen den Populationen in den Ostalpen und auf dem Balkan.

Für gewöhnlich verlaufen Auswilderungen still und leise, bisweilen sogar geradezu heimlich. Bei Luchsen zum Beispiel werden weder Zeit, noch Ort bekannt gegeben. Und die Öffentlichkeit erfährt in aller Regel erst mit ein paar Wochen Abstand, dass und in welcher Gegend ein junger Luchs frei gelassen worden ist. Die Geheimnistuerei hat einen einfachen Grund. "Man will Luchs-Gegner nicht auf die Spur der Tiere bringen", sagt Wegscheider. "Denn Luchse in freier Wildbahn sind sehr umstritten." Luchse machen Jagd auf Rehe, daher sind sie bei vielen Jägern wenig beliebt. In Bayern werden sogar immer wieder Luchse gewildert - obwohl sie streng geschützt sind und ihre Tötung eine Straftat ist.
Bei Bartgeiern ist das anders. "Die Menschen haben gelernt, dass Bartgeier harmlos sind für sie selbst und für alle Nutztiere", sagt Wegscheider. "Bartgeier fressen Aas und davon hauptsächlich die Knochen." Außerdem ist das Ansiedlungsprojekt schon von der Logistik her so aufwendig, dass LBV und Nationalpark es nicht geheimhalten könnten. Allein schon, weil es über zehn Jahre geht, die Jungtiere sich noch einige Wochen in der Auswilderungsnische aufhalten und die Felsnische unten vom Tal aus gut zu erkennen ist. "Aber nicht nur deshalb binden wir die Öffentlichkeit von Anfang an ein", sagt Wegscheider. "Sie ist auch ein Schutz für die Jungvögel." Das Kalkül des Biologen: Wenn alle wissen, wo sich die Bartgeier aufhalten, schreckt das die wenigen Neugierigen ab, die tatsächlich auf die Idee kommen könnten, zu der Felsnische hinaufzuklettern - das Risiko, entdeckt zu werden, ist viel zu groß.
Und wie läuft nun die Auswilderung am 10. Juni ab? Gegen zehn Uhr treffen die Bartgeier im Nationalpark ein. Dort folgt ein kurzer Festakt mit Grußworten unter anderem von Agrarministerin Michaela Kaniber (CSU), die in der Region daheim ist, und Umweltminister Thorsten Glauber (FW). Danach tragen zwei Jäger die Greifvögel in speziellen Holzkisten und auf Transportkraxen zu der Auswilderungsnische hoch über dem Klausbachtal hinauf. Sie werden von Wegscheider und anderen LBV-Leuten begleitet. Die erste Wegstrecke können Gäste mitgehen. Die zweite ist weglos, extrem steil und in absturzgefährlichem Gelände. Dort sind Gäste ausgeschlossen. Aber natürlich kann man die Gruppe mit den Bartgeiern bei ihrem weiteren Aufstieg sehr gut per Fernglas beobachten.