Spurensuche:Über einen Doppelmord in Landshut

Spurensuche: Andrea Maria Schenkels Romanfigur Hubert Täuscher wartete in einer Landshuter Hausnische auf seinen Komplizen, der gegenüber zwei Frauen ermordete.

Andrea Maria Schenkels Romanfigur Hubert Täuscher wartete in einer Landshuter Hausnische auf seinen Komplizen, der gegenüber zwei Frauen ermordete.

(Foto: Claus Schunk)

Der Fall in der niederbayerischen Stadt hat Andrea Maria Schenkel zu ihrem Buch "Täuscher" inspiriert. Ein Besuch mit der Krimi-Autorin am Schauplatz.

Von Sabine Reithmaier

Andrea Maria Schenkel bleibt plötzlich stehen. "Da", sagt sie und zeigt in der Neustadt auf zwei kleine Fenster direkt unter dem Dach eines unscheinbaren Hauses. "Genau da oben ist es passiert." Der brutale Mord an einer ledigen Musiklehrerin und ihrer pflegebedürftigen Mutter erschütterte 1922 ganz Landshut. Die Frauen waren tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden, erstochen die eine, erstickt die andere. Andrea Maria Schenkel hat diesen Fall in ihrem Krimi "Täuscher" verarbeitet.

Ist sie jemals das enge Treppenhaus hochgestiegen und hat im dritten Stock an der Wohnungstür geklingelt? "Ich bin oft hier gestanden und habe es mir überlegt. Aber ich habe mich nie getraut." Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie nachsehen will, ob der Holzboden immer noch die dunklen, von Blut herrührenden Verfärbungen aufweist, die sie, gestützt auf Polizeiakten, so exakt beschreibt?

Gleich gegenüber liegt die Konditorei, in der der Hauptverdächtige die Pralinen für seine Verlobte kaufte. Hubert Täuscher hat ihn Schenkel im Roman genannt, in Wirklichkeit hieß er Ludwig Eitele, war der Sohn eines wohlhabenden Bürstenfabrikanten. 2010, als sie die Geschichte recherchierte, ist sie das Viertel um die Martinskirche zigmal abgelaufen.

Kirchgasse, Schirmgasse, Zwerggasse, Steckengasse, Neustadt, Grasgasse - jeder der im Roman erwähnten Schauplätze existiert wirklich. "Das liegt an der Atmosphäre von Landshut", sagt Schenkel. "Hier sieht es noch so aus wie damals." Tatsächlich könnte Täuscher jeden Moment um eine Ecke biegen und sich eine Zigarette der Marke "Manoli-Parkschloss" anzünden.

Auf den Fall aufmerksam wurde Schenkel, als sie für ihr erstes Buch "Tannöd" recherchierte. Neben dem Bericht über den Sechsfachmord in Hinterkaifeck fand sie auf derselben Zeitungsseite auch einen Artikel über den Doppelmord in Landshut. "Mörderisches Niederbayern eben", sagt Schenkel, die Oberpfälzerin. "Neugierig hat mich gemacht, dass beide Taten am 31. März 1922 passiert sind."

Der Fall hat Schenkel nie losgelassen

Den Doppelmord legte sie damals wieder zur Seite. "Aber losgelassen hat er mich nie", sagt sie und stellt sich in der Steckengasse in eine Hausnische, um vorzuführen, wie Hubert Täuscher hier gewartet hat, während sein Komplize den Schmuck raubte und die Frauen umbrachte.

Von hier aus hatte Täuscher nicht nur einen guten Blick auf die Wohnung seiner Verlobten, sondern auch auf die Polizeiinspektion, die damals wie heute im ehemaligen Jesuitenkolleg residiert. Dass direkt über der Nische eine Gedenkplakette an Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach erinnert, Vater des Philosophen Ludwig Feuerbach und Großvater des Malers Anselm Feuerbach, selbst laut Inschrift "der bedeutendste deutsche Kriminalist", ist Schenkel noch nicht aufgefallen.

"Passt gut", sagt sie und geht weiter, weil inzwischen bereits andere Passanten vergeblich irgendetwas Auffälliges an dem Haus in der Neustadt zu entdecken suchen.

Dass Eitele zum Tode verurteilt wurde, passt einfach nicht

Im Staatsarchiv auf der Burg Trausnitz fand Schenkel eine ganze Kiste Akten zu dem Doppelmord inklusive der Krawatte, die Ludwig Eitele bei seiner Verhaftung trug. Mit einem Papierpfeil war dort ein kleiner Fleck markiert, angeblich Blut. Die Quellen zeichnen ein einseitiges Bild des Angeklagten.

"Was mich an den Unterlagen gestört hat, war die Erkenntnis, dass ihm sein Verteidiger nicht glaubte. Du merkst an jeder Aktennotiz, dass er den jungen Burschen nicht mochte." Sicher sei Eitele nicht besonders sympathisch gewesen, sondern "eitel, von sich eingenommen und verdammt verzogen".

Aber ein Mörder - Schenkel schüttelt den Kopf und geht schneller, sichtlich noch im Nachhinein erbost über den unfähigen Verteidiger. Dass Eitele zum Tode verurteilt wurde, während der andere trotz ellenlangen Vorstrafenregisters mit vier Jahren Zuchthaus davonkam, das passt einfach nicht.

Von der Familie lebt niemand mehr in der Stadt

64 Zeugen sagten vor Gericht aus. Eine davon ist die geschwätzige Bertha Beer, die sich nach dem Doppelmord nicht mehr durch die Neustadt wagte, sondern Umwege über die Zwerg- und Grasgasse ging. Weil es an diesem Tag genauso wie an dem Abend im Roman regnet, wirken die Gassen trotz des sanft schimmernden Kopfsteinpflasters düster und eng.

Schenkel bleibt vor der nicht minder düsteren "Volksbücherei" stehen. Im Schaufenster liegen nur Krimis. Auch die Aussagen der Zeugen seien zum Teil authentisch, sagt sie dann. Ein guter Beleg für die Streiche, die einem das Gehirn spielt, wenn es ums Erinnern geht.

Das Haus, in dem die Bürstenfabrikantenfamilie wohnte, existiert noch, liegt hinter der Kirche am Martinsfriedhof. Hier gibt es keine Autos. Leicht vorstellbar, wie die kleine Schwester Täuschers hier Ball spielte und auf den Kirchenstufen saß, während sie dem Fremden mit den zweifarbigen Schuhen von ihrem Bruder erzählte. Von der Familie lebt niemand mehr in der Stadt.

Die Schwester verließ Landshut 1936, die Mutter folgte wenige Jahre später. "Hätte ich festgestellt, dass noch ein Familienmitglied hier lebt, hätte ich stärker verfremdet." Aber als sie mit "Täuscher" auf der Frankfurter Buchmesse auftrat, sprach sie eine Frau an, eine Verwandte Eiteles. Von ihr hat sie erfahren, dass in der Familie nicht viel über ihn gesprochen wurde. "Aber sie fand, mein Täuscher entspräche ziemlich genau dem, was in der Familie über Ludwig erzählt wurde."

Heute würde Eitele Ego-Shooter spielen, glaubt Schenkel

Andrea Maria Schenkel ist eine Meisterin darin, Fakten und Fiktion zu mischen, den Plot aus Verhörprotokollen, fingierten Zeitungsberichten und Gerichtsaussagen zu bauen. Immer erschreckend dicht an der Realität. An keinem anderen Ort in Deutschland endete ein Prozess so häufig mit einem Todesurteil wie in Landshut. Sieben Hinrichtungen allein im Jahr 1922, immer vor einem Volksgericht.

Richter und Staatsanwalt sahen übrigens in der Kinoversessenheit des Angeklagten einen der Auslöser für das Vergehen und mutmaßten, die Stummfilme hätten fatale Auswirkungen auf junge Gehirne. "Die haben das fast ebenso verteufelt wie andere heute das Internet oder Computerspiele." Liebend gern hätte Schenkel den ersten Dr. Mabuse-Film in den Roman eingebaut. Aber der hatte erst am 22. April 1922 Premiere, da saß Eitele schon im Gefängnis.

Bis der Film den Weg nach Landshut schaffte, dauerte es. Das hätte eng werden können mit den Volksgerichten, die sie unbedingt unterbringen wollte. Denn die verfassungswidrigen Sondergerichte, 1918 eingerichtet, um schwere Straftaten schneller aburteilen zu können, wurden 1924 wieder abgeschafft. "Manchmal bist du beim Schreiben gezwungen, Dinge, die du dir so toll vorgestellt hast, wieder zu verwerfen." Glaubwürdigkeit geht vor.

Mehr als 90 Jahre ist es her, dass Eitele hingerichtet wurde. Heute würde er nicht im Anzug rumlaufen, dafür hätte er Tattoos, ein Smartphone und würde Ego-Shooter spielen, glaubt Schenkel. "Bei dem Buch wurde mir wahnsinnig bewusst, dass sich alles immer wiederholt." Nur hätte der Fabrikantensohn heute vermutlich einen besseren Verteidiger.

Nächste Folge: Spurensuche mit Andreas Föhr

Zur Person

Andrea Maria Schenkel, geboren 1962 in Regensburg, wurde mit ihrem Debüt "Tannöd" 2006 auf einen Schlag berühmt. Der eigenwillige Krimi nach einem authentischen Fall stürmte die Bestseller-Listen, wurde mit Preisen ausgezeichnet, verfilmt und fürs Theater adaptiert. Es folgten "Kalteis", "Bunker", "Finsterau" und schließlich "Täuscher". In ihrem neuen Roman "Als die Liebe endlich war" (Hoffmann und Campe, 2016) verlässt sie erstmals Bayern und das Genre des Kriminalromans. Zwar stammen ihre Helden Emmi und Carl noch aus Bayern, haben Deutschland aber hinter sich gelassen: Carl, ein deutscher Jude, floh 1938 mit seiner Familie zuerst nach Shanghai, danach in die USA, Emmi hat Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Schenkel kehrt Regensburg inzwischen ebenfalls von Zeit zu Zeit den Rücken zu. Die Mutter von drei Kindern lebt nämlich teilweise in Westchester nahe New York.

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