Landkreis Landshut:Der Wolf und die Speckmair-Dirn

Landkreis Landshut: Ein einsam gelegener Höhenweg nahe des Dorfs Neufraunhofen führt an einer Flurkapelle vorbei direkt in Richtung des Wäldchens, an dessen Rand ein Wolf einst ein Mädchen zu Tode biss.

Ein einsam gelegener Höhenweg nahe des Dorfs Neufraunhofen führt an einer Flurkapelle vorbei direkt in Richtung des Wäldchens, an dessen Rand ein Wolf einst ein Mädchen zu Tode biss.

(Foto: Hans Kratze)

Eine Erinnerungstafel nahe Neufraunhofen bei Landshut erinnert an eine Tragödie, die vor mehr als 300 Jahren passierte. Sie inspirierte die Autorin Marlene Reidel zu einem erfolgreichen Kinderbuch.

Von Hans Kratzer, Neufraunhofen

Der Dreißigjährige Krieg, das Hungerjahr 1817, die Revolution von 1918/19: Meistens bleiben nur traumatische Geschehnisse von globaler Wucht über Jahrhunderte im Gedächtnis der Menschen haften. Manchmal überleben aber auch Erinnerungen an Ereignisse, die zu unbedeutend waren, um den Lauf der Weltgeschichte zu berühren. Ein solches Beispiel bezeugt die alte Wolfssäule in der Nähe des Dorfes Neufraunhofen (Landkreis Landshut).

Sie erinnert die wenigen Passanten, die sich in die Einsamkeit dieser Gegend verirren, an ein Drama, das sich vor mehr als 300 Jahren ereignet hat. Hier, am Rande eines abgelegenen Wäldchens, ist ein Mädchen auf dem nächtlichen Heimweg von einem Wolf gerissen worden. Die auf einem gut zwei Meter hohen Holzpflock angebrachte Erinnerungstafel schildert in gereimter Form das Unglück, das einen beim Lesen noch heute berührt:

Lurte auf diesem Platz allhier

Ein Wolf, ein grimmig wildes Tier

Als spät nach Hausbach ganz allein

Ein Mädchen rüstig eilte heim

Doch plötzlich sie des Wolfs Gebiss

Erfaßte und zu Boden riß

Nie mehr ging sie dem Speckmair zu

Gott gebe ihr die ewige Ruh.

Wie diese Tafel hat auch die Landschaft rund um die Wolfssäule dem Lauf der Zeit getrotzt. Ein verlassener, kaum benützter Höhenweg führt vom Dorf hinüber zur Wolfssäule. An trüben Dezembertagen umfängt den Spaziergänger in dieser Gegend eine Atmosphäre, wie sie im 18. Jahrhundert nicht viel anders gewesen sein dürfte. Der Blick streift über ein angenehm modelliertes Hügelland, in der Ferne bellt ein Hofhund, über den schneegetupften Äckern kreisen zeternde Krähen.

Es öffnet sich ein Szenario, wie man es aus den Versen des melancholischen Dichters Georg Trakl (1887-1914) kennt. Auch hier scheint die Zeit vollends versickert zu sein. Links am Waldrand duckt sich unter allerlei Laubgeäst eine alte Wegkapelle. Das Panoptikum bildet einen frappierenden Gegenentwurf zum Lärm- und Betonteppich des modernen Turbo-Bayern, dessen mobile Maschinerie schon fünf bis zehn Kilometer weiter südlich flächendeckend lärmt und rollt.

Im Ortskern des nahen Dorfes Neufraunhofen hat sich fast in Reinform eine barocke Hofmark erhalten, dazu das Schloss der Grafen von Soden-Fraunhofen, die hier seit mehr als tausend Jahren residieren. Alles atmet Geschichte, die hier lebenden Menschen haben nicht vergessen, dass ihre Heimat erst seit 1806 zu Bayern gehört.

Landkreis Landshut: Ein einzigartiges bäuerliches Denkmal, das bald verschwunden sein wird.

Ein einzigartiges bäuerliches Denkmal, das bald verschwunden sein wird.

(Foto: Hans Kratze)

Die Fraunhofener waren vorher eine eigenständige Reichsherrschaft, fromm und selbstbewusst. Weil die Fraunhofener die Hochgerichtsbarkeit ausübten, besaß die Herrschaft auch einen Galgen. Er stand wenige Meter von der Wolfssäule entfernt. Ob an ihm tatsächlich Delinquenten baumelten, ist nicht überliefert.

Von der Wolfssäule aus fällt der Blick in eine Talsenke, in die sich das einzige Anwesen hineinduckt, das von hier aus zu sehen ist. Es ist der wunderschöne Einödhof von Krottenthal, der allerdings schon seit Jahrzehnten verlassen ist und jetzt langsam zusammenkracht. Welch ein berührendes Zeugnis des Untergangs einer bäuerlichen Kultur. Wenn der Hof verschwunden ist, wird er dennoch nicht in Vergessenheit geraten, denn das Leben, das hier geherrscht hat, ist schon längst künstlerisch und literarisch dokumentiert.

Das Leben in Krottenthal bedeutete lange Zeit Armut und Not

Es war ein Glücksfall, dass die 2014 gestorbene Kinderbuchautorin Marlene Reidel in diesem Anwesen aufgewachsen ist. Schon früh hatte sie begonnen, über die ärmliche Existenz auf so einem Hof zu reflektieren. Das veranlasste sie, die tragischen, manchmal aber auch lustigen Aspekte des kargen Bauernlebens von anno dazumal auf eine sehr eigene, unverwechselbare Weise zu schildern. Ihre sich daraus speisenden Kinderbücher tragen geradezu märchenhafte, ja surreale Züge. Reidels Bücher wurden mit zahllosen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendbuchpreis (1958).

An einem Herbsttag vor gut zehn Jahren hat die Künstlerin den verfallenden Hof ein letztes Mal besucht und mit leiser Stimme die alten Geschichten erzählt. Die Zuhörer beschlich dabei eine traumhafte Vorstellung von der guten alten Zeit, als die Menschen noch wussten, was Glück und Zufriedenheit bedeuten. Andererseits klangen ihre Geschichten aber auch verstörend, vor allem jene, die ihre Mutter auf dem Hof erlebt hat.

Landkreis Landshut: Die Autorin Marlene Reidel (gestorben 2014) hat der Wolfssäule in einem Kinderbuch ein Denkmal gesetzt.

Die Autorin Marlene Reidel (gestorben 2014) hat der Wolfssäule in einem Kinderbuch ein Denkmal gesetzt.

(Foto: Hans Kratze)

Wie sie als Dreijährige mit ihren sieben Geschwistern am Bett der Mutter stand und betete, wie die bedauernswerte Frau dann vom Wochenbettfieber weggerafft wurde. Und der Vater war in der Sterbestunde nicht da, weil draußen im Stall gerade eine Kuh kalbte. Die wenigen Viecher sicherten die Existenz der armen Familie, die nicht einmal einen Arzt bezahlen konnte. Das Leben in Krottenthal bedeutete lange Zeit Armut und Not. "Wir lernten aber, uns mit dem Wenigen zufrieden zu geben", sagte Frau Reidel.

Umso mehr wurde dadurch die Fantasie des Mädchens beflügelt. In der Umgebung des Hofs öffnete sich eine geheimnisvolle Welt. Dazu gehörten auch der Galgenbuckel und die Wolfssäule sowie das einsame Häusl in der Nachbarschaft, wo die alte Weiherhex wohnte. Marlene Reidel setzte dieser Frau in dem Kinderbuch "Anna und die Weiherhex" ein liebevolles literarisches Denkmal, in dem sie deren Schicksal in eine Geschichte verpackte. Reidel erzählt darin, wie sich die kleine Anna mit der gefürchteten Weiherhex anfreundet, die in Wirklichkeit nur eine arme Frau war, die im Krieg aus dem Böhmischen flüchtete und dabei Mann, Kind und Besitz verlor.

In dem wunderbaren Bilderbuch "Der Lorenz" schildert Marlene Reidel das Leben auf dem Krottenthaler Hof en detail, auch ihre Ausflüge zur schaurigen Wolfssäule. Wenn dann abends in der Stube die alten Geschichten erzählt wurden, erwachten erst recht die Urängste, die wohl daher rührten, dass dieser Landstrich früher von so mancher Wolfsplage heimgesucht wurde.

Dutzende Ortsnamen in der Umgebung klingen bis heute wie eine Mahnung: Wolfsegg, Wolfswinkel, Wolfsgrub... In Kriegszeiten sind die Wölfe rudelweise eingefallen. Schauergeschichten und Marterl künden zuhauf von zerrissenen Kindern und zerfleischten Männern. Allein in jener Zeit, in der die Speckmair-Dirn zu Tode kam, wurden hier jährlich Dutzende Wölfe erlegt. Die Wolfssäule ist nicht das einzige Wolfsmarterl, das in Bayern existiert.

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