Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Schauplätze, Folge 27:Eine unselige Tradition

Zwei Jahrhunderte lang hat sich in Oberbayern das Haberfeldtreiben gehalten. Die Opfer waren oft Frauen, die gegen Konventionen verstießen. Die Regierung bereitete der Selbstjustiz 1893 in Miesbach ein gewaltsames Ende, doch 2008 gab es abermals einen spektakulären Fall

Von Matthias Köpf

Die alte Linde trägt schwer an ihren Ästen. Die drei unten längst hohlen Hauptstämme legen sich breit ins feuchte Grau, oben von einem Drahtsteil zusammengespannt. Nebel wie an diesem Tag wäre den Männern sicher recht gewesen, die sich hier oben getroffen haben sollen, auf einer Kuppe des Stadlbergs südlich von Miesbach. Schnee wäre allerdings nicht gut gewesen, denn Spuren wollten sie nicht hinterlassen - jedenfalls keine Fußspuren, denen die Gendarmen hätten folgen können. Hier oben also soll über lange Zeit der Zwölferrat der Haberermeister zusammengekommen sein, um zu verabreden, wie man über die Unehrbaren richten und der Obrigkeit spotten würde. Der Kreuzberg, auf dem das dunkle Treiben nach zwei Jahrhunderten ein Ende fand, liegt nur zwei Kilometer Luftlinie entfernt.

Ende des 19. Jahrhunderts reichte der Markt Miesbach noch nicht bis hierher. Das Bezirksamt war gewarnt worden, hatte Gendarmen zusammengezogen aus Schliersee, Hundham, Schaftlach, Gmund und Holzkirchen, alarmiert über das Telegrafennetz, das sich gerade immer feiner über das Land spannte. Die Gendarmen sollen erst anderswo auf der Lauer gelegen haben, doch die Schüsse fielen dann hier, in der "Schlacht vom Kreuzberg" in der Nacht auf den 8. Oktober 1893. Danach gab es noch hie und da ein kleineres Haberfeldtreiben, doch die große Zeit war damit vorbei. Die früheste Hinweis auf ein Haberfeldtreiben im Jahr 1675 im nahen Fischbachau ist schlecht belegt. Aktenkundig wird es 1716, als in Vagen im Landkreis Rosenheim zwei Dutzend vermummter Gestalten Lärm schlagen vor dem Haus des Kistlers Steindl und im Fackelschein ihr eigenes Gericht halten über die Verfehlungen seiner Tochter Ursula. Welcher Art die sein sollten, ist nicht überliefert in Steindls Anzeige wegen seines zerstörten Schuppens. Diese lässt trotzdem wesentliche Elemente des Haberfeldtreibens erkennen, das es historisch fast ausschließlich im Voralpenland zwischen Isar und Inn gegeben hat: Die Haberer sind immer nur Männer, die geschmähten, oft vollends entwürdigten Opfer zumindest am Anfang oft Frauen, schwangere Mädchen, ledige Mütter. Über die Herkunft des Wortes gibt es zwei Theorien. Die eine leitet es vom Haferfeld ab, über dessen harte Stoppeln man die Delinquenten getrieben haben soll. Die andere führt das Haberfell, also das Fell des Ziegenbocks an, mit den sich die Haberer verkleidet haben.

Das Treiben hat sich wohl als Rügebrauch entwickelt, wie es sie in vielen Kulturen gibt. Manche wollen Reste germanischer Femegerichte erkennen, andere sehen in den Haberern Verteidiger des bäuerlichen Volks gegen die Obrigkeit, manche gar geheime Widerstandsgruppen gegen die kaiserliche-österreichische Besatzung des Bayernlandes. Der Wirklichkeit nähert sich der Historiker Wilhelm Kaltenstadler mit wissenschaftlicher Akribie. Er sieht die Anfänge des Habererwesens im frühen 17. Jahrhundert und verweist auf Bräuche in Frankreich. Die Geistlichkeit habe anfangs ihre Freude gehabt an der scheinbar so sittenstrengen Selbstjustiz. Doch die Haberer selbst gaben sich immer mehr den Anschein eines großen Geheimbunds, man berief sich auf Kaiser Karl im Untersberg. 2000 Mitglieder sollen es zeitweise gewesen sein, Schweigegelübde wurden geleistet, und wer mitmachte, konnte sich selbst jede Verfehlung erlauben. Das 1806 gegründete Königreich Bayern gab sich bald immer mehr Mühe, sein Justizmonopol durchzusetzen und verfolgte die Krawalle der Haberer immer unnachgiebiger als Landfriedensbruch - zumal sich die Haberer nun als Untergrund-Organisationen gerierten, fast guerillaartig zuschlugen und auch vor der Belagerung königlicher Bezirksämter nicht mehr zurückschreckten. Der Klerus hatte ihnen seine Gunst lang entzogen, und bei den meisten Menschen am Land hatten sie den Rückhalt verloren, auch weil sich die derben, mündlich vorgetragenen und später per Handzettel und Aushang verteilten Reime oft als Verleumdung erweisen.

Besonders schlimm soll es der Daxer von Wall im Miesbacher Raum getrieben haben, der mit den gedruckten Sprüchen gute Geschäfte gemacht und nebenbei Präservative vertrieben haben soll. Am Daxer hatten sich auch intern die Geister geschieden, doch im Oktober 1893 wollten die Haberer im Oberland noch einmal ihre Macht demonstrieren, in einem riesigen Treiben mit 300 Männern am Kreuzberg. Doch jetzt hatten sie den Bogen überspannt, sie mussten sich zurückziehen, es gab Verletzte und Verhaftungen. Die Zuchthäuser füllten sich, und die Notizbücher der Gendarmen auch. Die Haberer waren am Ende.

Doch an einigen Orten gibt es sie wieder, in Miesbach seit 1963. Damals hatten 16 Stammtischbrüder in Faschingslaune "D'Haberer" gegründet, einen Verein, der sich seine Mitglieder, 35 Aktive sind es derzeit, gut aussucht. Aber beim jährlichen Haberfeldtreiben im Juli wird nur angeprangert, dass die Bürgermeisterin beim Maibauaufstellen kein Dirndl anhat oder ein Stadtrat nach der Sitzung nicht mehr ganz nüchtern heimgeht.

Seine dunkle Faszination hat das Haberfeldtreiben noch nicht ganz verloren. Die Miesbacher Haberer banden sich ihre falschen Hanfbärte um, schmierten sich schwarze Farbe ins Gesicht und kamen mit den lauten Ratschen, als es 1978 gegen den Flughafenbau im Erdinger Moos ging. 2008 wurde der damalige Bauernpräsident Gerd Sonnleiter von 2000 wütenden Landwirten auf seinem Hof in Niederbayern heimgesucht. Die letzte große Schlacht der Haberer, 1893 am Kreuzberg, war da längst geschlagen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3781900
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.12.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.