SZ-Serie: Familientreffen, Folge 5:Ein Bund fürs Leben

Das SOS-Kinderdorf in Dießen am Ammersee bietet Buben und Mädchen aus problematischen Familien den Rahmen, behütet groß zu werden. In Haus 9 kümmert sich Menekşe Kaross um ihre Schützlinge. "Einmal Kinderdorf-Mutter, immer Kinderdorf-Mutter", lautet ihr Motto

Von Dietrich Mittler, Dießen

Dieses Drama war absehbar. Eine Erzieherin wischt Jonas mit einem feuchten Tuch die Schokolade vom Mund. Der Zweijährige brüllt wie am Spieß "Mamaaaa!" - und das in einer Tonhöhe, die kurz davor ist, Gläser zerspringen zu lassen. Teller und Gabeln werden gerade klappernd aus dem Schrank geholt. Uljana, sechs Jahre alt, will auch einen Schokokeks, kriegt aber vor dem Mittagessen keinen mehr. Ihre fünfjährige Schwester Jasmin kommt herein, sagt "Guck mal, was ich kann", um im nächsten Augenblick zu zeigen, was sie im Ballettunterricht gelernt hat. Simon, das Baby, nuckelt an seinem Fläschchen. Selma, mit sieben Jahren die große Schwester von Uljana, Jasmin und Simon, spielt draußen. Und Sophie, mit 15 Jahren der Teenie im Haus, schläft noch. Es sind ja schließlich Ferien. Ganz normaler Familienalltag im SOS-Kinderdorf in Dießen am Ammersee, Haus Nummer 9.

Mittendrin in diesem Tohuwabohu sitzt Menekşe Kaross, die SOS-Kinderdorf-Mutter. "Menekşe" heißt auf Deutsch "Veilchen", und weil ihr türkischer Vorname hier so oft falsch ausgesprochen wurde, beschloss die 50-Jährige bereits vor vielen Jahren, dass man sie doch bitte "Mia" rufen solle. Aber Jonas (die Namen aller Kinder wurden geändert) nennt sie ganz einfach nur "Mama". Die Mädchen auch - mit Ausnahme von Sophie, die bereits elf Jahre alt war, als sie im SOS-Kinderdorf ein Zuhause fand.

SOS-Kinderdorf Dießen am Ammersee

Gern geht SOS-Kindergarten-Mutter Menekşe Kaross mit den kleinen Kindern zum Sandkasten.

(Foto: Corinna Guthknecht)

Kaross glaubt an glückliche Fügungen im Leben, und eine solche habe sie nach Dießen an den Ammersee gebracht. Während ihre Eltern in Braunschweig durch harte Arbeit als Gastarbeiter der Großfamilie im Großraum Antakya einen bescheidenen Wohlstand sicherten, träumte sie als Mädchen davon, "irgendwann reich zu werden". Nicht, dass sie sich von dem Geld Brillanten oder teure Autos hätte kaufen wollen. "Ich wollte Kinder, die auf der Straße leben, bei mir aufnehmen und versorgen", sagt sie. Die Kinder in ihrem Heimatdorf waren arm. Einer Schulfreundin, die nicht einmal Socken besaß und "im Winter sehr gefroren hat", schenkte sie ihre eigenen Socken und einen Pullover. "Davon wird bei uns im Dorf heute noch erzählt", sagt sie.

Doch der Traum von den vielen Kindern verwirklichte sich erst Jahrzehnte später. Mit 14 Jahren kam Kaross in Deutschland an, sprach kein Wort Deutsch, brach die Realschule ab, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Damenschneiderin, dann auch noch zur Bürokauffrau. Sie ging zur Arbeit, heiratete, gebar eine Tochter, kam nach der Scheidung vom ersten Mann über den zweiten Bildungsweg zum Studium der Erziehungswissenschaften. Als die Tochter groß genug war, konzentrierte sich Kaross voll auf ihr soziales Engagement bei der Arbeiterwohlfahrt, hauptsächlich in Migranten-Hilfsprojekten. Dann endlich folgte die Arbeit mit Kindern, die kein Zuhause mehr hatten - in Dissen am Teutoburger Wald. Und schließlich 2016 als krönender Abschluss die Bewerbung nach Dießen am Ammersee, wo sie nun im Haus Nr. 9 die "Mama" ist und ihr heutiger Mann Martin der "Papa". Von Dissen nach Dießen, Kaross sieht darin eine Fügung. Bundesweit gibt es 38 SOS-Kinderdorf-Einrichtungen, sieben davon in Bayern. Aber es war eben Dießen, das auf Dissen folgte - und nicht Augsburg, Hohenroth oder Weilheim.

SOS-Kinderdorf Dießen am Ammersee

Das Baby wird zu Aktivitäten natürlich mitgenommen und so bleibt sein Bettchen leer.

(Foto: Corinna Guthknecht)

"Ich weiß nichts Besseres, einem Kind zu helfen, als ihm eine Mutter zu geben, Geschwister zu geben, ein Haus, ein Dorf zu geben", so sagte einst Hermann Gmeiner, der Gründer der SOS-Kinderdorf-Initiative. Der Satz könnte auch von Menekşe Kaross stammen. Ebenso die im Leitbild verankerten Grundsätze wie: "Wir gestalten Lebensräume." Oder: "Wir bieten verlässliche Beziehungen in einem geschützten Rahmen und ermöglichen Zusammengehörigkeit und Bindung."

Durchschnittlich im Alter zwischen sechs und sieben Jahren werden die Kinder in eine SOS-Kinderdorf-Familie aufgenommen. Wiederum 63 Prozent von ihnen leben mit mindestens einem Geschwisterteil in derselben Familie - so wie Selma, Uljana, Jasmin und Simon. "Die Kinder wissen genau, dass ich nicht ihre leibliche Mama bin", sagt Kaross, "aber ich sorge für sie." Manchmal, wenn sie streng wird - "und ich kann sehr streng sein" - bekommt sie zu hören: "Du hast mir gar nichts zu sagen, du bis nicht meine Mama!" Das tue ihr weh. "Ja, du hast recht, das weiß ich auch", sagt sie dann, "aber du musst mir das nicht um die Ohren hauen. Ich bin auch nur ein Mensch, und keiner zwingt dich dazu, mich Mama zu nennen." Dann sei das Thema erledigt. Aber dass es mitunter auch mal Zoff gebe, das sei doch ganz normal. "Wir zanken uns, und wir lieben uns", sagt sie.

SZ-Serie: Familientreffen, Folge 5: Sippen, Sitten, Soziotope - wie Familien heute leben, SZ-Serie.

Sippen, Sitten, Soziotope - wie Familien heute leben, SZ-Serie.

Kaross weiß aber auch, dass sie in Einzelfällen womöglich nur Mutter auf Abruf ist. Es könne vorkommen, dass der Vormund der Kinder für diese plötzlich einen anderen Aufenthaltsort bestimmt, etwa eine Pflegefamilie. In ungefähr einem Viertel der Fälle kommen Kinder nach einiger Zeit auch zu den leiblichen Eltern zurück. Kinderdorf-Familien sind - anders als manche immer noch glauben - nicht nur für Waisen gedacht, sondern hauptsächlich für Kinder, deren Eltern mit der Erziehung völlig überfordert sind.

"Bei meinen sechs Kindern ist genau das der Fall", sagt Kaross. Sie drückt das Baby fest an sich. Hinter dem gut sechs Monate alten Buben liegen schwere Zeiten. "Seine Eltern sind beide drogensüchtig, und wie seine Schwestern hat Simon nach der Entbindung einen harten Entzug durchmachen müssen", sagt Kaross. Simons Kinderdorf-Bruder Jonas hat ebenfalls traumatische Erlebnisse hinter sich, bis er endlich in Dießen eine feste Bleibe fand. Gleich nach seiner Geburt hatte seine Mutter gesagt, sie wolle nicht, dass er wie sie selbst in den Fängen einer Bettler-Mafia lande.

SOS-Kinderdorf-Familien sind auf solche Schicksale eingestellt. Menekşe Kaross weiß hoch motivierte Erzieherinnen und einen psychologischen Fachdienst an ihrer Seite. Unterstützung bekommt sie außerdem durch zwei Hauswirtschaftskräfte in Teilzeit. "Aber ich bin der Kopf der Familie", sagt sie. Wer sie auf die Kinder anspricht, bekommt zu hören, die sechs Buben und Mädchen hier im Haus seien "ganz besondere Kinder". Dann fügt sie hinzu: "Ich sage das jetzt aber nicht deshalb, weil das meine Kinder sind." Kürzlich erst habe sich ihre Mutter bei ihr über Skype aus der Türkei gemeldet. "Als sie die Kinder dann am Bildschirm sah, hat sie gerufen: adoptieren, adoptieren!" Kaross lacht: "Das brauche ich gar nicht. Einmal Kinderdorf-Mutter, immer Kinderdorf-Mutter."

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