Amerikanischer GI in Nürnberg:Der Soldat und das Mädchen

Amerikanischer GI in Nürnberg: Hildegard, wo bist du? Das Amulett hat das Mädchen Leo Ryan zum Abschied geschenkt, bis heute liegt es auf seinem Nachttisch.

Hildegard, wo bist du? Das Amulett hat das Mädchen Leo Ryan zum Abschied geschenkt, bis heute liegt es auf seinem Nachttisch.

(Foto: privat)
  • Ein US-Soldat hat nach Kriegsende in Nürnberg Freundschaft mit einem Mädchen geschlossen. Heute ist Leo Ryan 93 Jahre alt und würde sie gerne wiedersehen.
  • Allerdings hat er die damals Sechsjährige nicht nach Nachnamen oder Adresse gefragt.
  • Jackie, die Tochter des Soldaten, will das Mädchen Hildegard nun finden.

Von Kerstin Zilm, San Francisco

"Oh mein Gott!" Leo Ryan schlägt noch jetzt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er an den Moment in Nürnberg denkt, den er bis heute nicht vergessen kann. Der Moment, als er Hildegard das letzte Mal sah. "Sie kam einfach quer über das Feld, auf dem alle US-Soldaten und Offiziere Stellung bezogen hatten, direkt auf mich zu. Es war, als würde die Zeit stehen bleiben!"

Es war Ende Juni 1945 und fünf in Nürnberg stationierte Einheiten hatten den Befehl bekommen, die Stadt zu verlassen und den Kampf gegen Japan zu unterstützen. Hunderte Neugierige beobachteten die militärische Abschiedszeremonie. "Präsentiert das Gewehr!", befahl der Adjutant. Gleich würde das Bataillon in Formation den Platz verlassen. "Ich habe sie erst nicht gesehen. Ich habe nur gehört, wie alle um mich herum die Luft anhielten", erinnert sich Ryan. Er war damals 23 und einer der Soldaten. Dann sah er das sechs Jahre alte Mädchen im weißen Kleid, das blonde Haar zu Zöpfen geflochten, das die Absperrung durchbrach und an den Offizieren vorbei mit erhobenem Kopf direkt auf ihn zu geschritten kam. Ryan zischte: "Oh Gott, Hildegard, nein. Schnell raus." Das Mädchen blieb stehen und hielt ihm ein Päckchen entgegen. "Hier Leo, für dich." Kaum hatte er es genommen, drehte sie sich um und ging schnurstracks zurück. "Parademarsch", befahl der Adjutant und Leo Ryan marschierte mit den anderen 500 Soldaten an Hildegard und ihrer Mutter vorbei.

Die Kinder durften bei den Soldaten bleiben

Es war das letzte Mal, dass Leo Ryan Hildegard sah. Heute ist er 93 Jahre alt, lebt in San Francisco - und würde Hildegard gerne wiederfinden.

Auch an ihre erste Begegnung erinnert er sich genau: "Es war der 10. Mai 1945. Wir waren gerade in Nürnberg angekommen und machten viel Lärm beim Ausladen unserer Laster." Kinder standen ihnen dabei im Weg und die Soldaten fingen an, mit ihnen zu scherzen.

Amerikanischer GI in Nürnberg: Das Foto zeigt den US-Soldaten in Nürnberg, umringt von Kindern.

Das Foto zeigt den US-Soldaten in Nürnberg, umringt von Kindern.

(Foto: privat)

Ein blondes Mädchen mit neugierigen Augen und zum Kranz gebundenen Zöpfen fiel Leo Ryan auf. Sie schien ihn zu beobachten. Er blinzelte ihr zu. Sie reagierte nicht, beobachtete ihn aber weiter. Als die Soldaten später ihre Mensa aufbauten, war sie wieder da. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass Kinder hier Brote dick mit Butter bestrichen bekamen, obwohl es einen Befahl gab, keinen Kontakt mit Deutschen aufzunehmen.

Das Leid der Kinder

"Wenn du Kinder siehst, hast du wieder das Gefühl, ein Mensch zu sein und kein Soldat." So erklärt Ryan heute, warum die Männer die Kinder nie vertrieben. "Sie gehen so großzügig mit ihrer Liebe um." Es tat ihm weh zu sehen, dass manchen Kindern ein Auge fehlte oder Gliedmaßen. "Auch sie mussten dafür bezahlen, was die Deutschen den Juden und den Nachbarstaaten angetan hatten."

Das Mädchen kam jeden Tag zum Quartier und er fragte es mit seinen spärlichen Deutschkenntnissen schließlich nach seinem Namen. "Hildegard." "Ich bin Leo", sagte er. Ihre Freundschaft begann. Hildegard folgte ihm fast überall hin. Fuhr er mit dem Jeep zum Hauptquartier, saß sie auf dem Rücksitz, meist im Overall bei offenem Verdeck mit flatterndem Haar.

Geburtstagsgeschenk für ein besseres Leben

Ryans Einheit stellte Hildegards Mutter als Wäscherin an. Überrascht stellten sie fest, dass sie ungewöhnlich viel Armeeseife verbrauchte. Erst später wurde ihnen klar, dass sie diese auf dem Schwarzmarkt verkaufte. "Sie hat deutlich mehr Geld damit verdient als mit dem Waschen," erzählt Ryan. Sie hatte zwei Kinder zu versorgen, ihr Mann war vermisst, zuletzt gemeldet an der russischen Front.

Amerikanischer GI in Nürnberg: Leo Ryan in Soldatenuniform 1945.

Leo Ryan in Soldatenuniform 1945.

(Foto: privat)

Leo Ryan lernte durch Hildegard einiges über das Leben der Deutschen im zerstörten Nürnberg. Hildegards 13 Jahre alter Bruder klopfte in den Ruinen Mörtel von den Ziegeln und tauschte Zigaretten gegen ein mageres Mittagessen. Die "riesige Überraschung", zu der die Familie den Soldaten eines Sonntags einlud, entpuppte sich als ungenießbarer Kaffee. "Als ich sie fragte, wo sie den her haben, sagten sie mir: Den hat Hildegards Bruder gefunden - im Müll der Kaserne!" Die schwierigen Umstände schienen das Mädchen nicht zu stören. "Sie war wie ein Vogel", sagt Ryan, "frei, unbekümmert und ohne Berührungsängste."

Als er herausfand, dass Hildegard bald ihren sechsten Geburtstag haben würde, entwickelte er mit anderen Soldaten einen waghalsigen Plan: Schokoladendiebstahl. Zwar bekamen die Soldaten alle drei Wochen eine Box mit Kautabak, Zigaretten, Zahnpasta, Seife, Rasierklingen - und einer Schachtel Schokoriegel. Die nächste Ration war allerdings erst in ein paar Wochen fällig. Zu spät für Hildegards Geburtstag. Also fuhren sie zum Lager. Zwischen Paletten voller Kleidung und Ausrüstung waren dort auch die Versorgungskisten gestapelt. Sie schlichen sich an Wachposten vorbei, Ryan griff eine Kiste, warf sie auf den Rücksitz des Jeep. Im Eiltempo ging es zurück zur Kaserne. "Hätten sie uns erwischt, wären wir ins Gefängnis gekommen."

Schokolade für den Schwarzmarkt

Als Hildegard das Geschenk auspackte, breitete sich Schweigen aus. Sie wusste gar nicht, was das war. "Probier mal!" ermunterte Leo sie, doch die Mutter stellte die Kiste zur Seite. "Nein Leo, nicht jetzt. Morgen kann sie auspacken."

Als Hildegard am nächsten Tag zum Quartier kam, fragte er sie, wie ihr die Süßigkeit geschmeckt habe. "Welche Süßigkeit?" Ihre Mutter hatte ihr nichts gegeben. Wutentbrannt stellte der Soldat sie zur Rede. "Ich habe sie auf dem Schwarzmarkt verkauft", antwortete sie. Leo konnte es nicht fassen. "Wir hatten viel dafür riskiert und sie hat Hildegard nicht einmal einen Bissen gegeben." Doch dann erfuhr er, wie viel die Schokolade wert war: 50 Mark pro Riegel. 2050 Mark für die ganze Kiste. "Das ist nicht Schokolade, Leo. Das ist unsere Zukunft." Er verstand.

Amerikanischer GI in Nürnberg: Leo Ryan heute mit Tochter Jackie.

Leo Ryan heute mit Tochter Jackie.

(Foto: privat)

Nur wenige Tage nach dem Geburtstag kamen der Marschbefehl und die Abschiedszeremonie. Leo konnte Hildegards Geschenk erst in der Unterkunft auspacken. Es war ein Amulett mit einem Hufeisen darauf. "Ich dachte: Das ist gut, Glück kann ich gebrauchen." Als er es öffnete, stockte sein Herz. Auf der einen Seite war ein Foto von Hildegard, auf der anderen stand handgeschrieben: Vergiss mich nicht! Das Amulett trug er erst in der Hosentasche, dann in seinem Kleiderbeutel. Zurück in den USA legte er es auf den Nachttisch. Dort ist es noch heute. Leo ist inzwischen Großvater, doch Hildegard hat er nie vergessen.

Leos Tochter will Hildegard finden

"Ich habe sie leider nie nach ihrem Nachnamen gefragt und Straßenschilder gab es damals nicht mehr viele." Ohne Namen und Adresse ist es schier unmöglich, Hildegard zu finden, die heute 76 Jahre alt ist, wenn sie noch lebt. Leos Tochter Jackie, eine bekannte Jazz-Sängerin, hat sich trotzdem auf die Suche gemacht. Sie hat Fotos gefunden, außerdem die Adresse des Quartiers in Nürnberg: Mommsenstraße 39. Außerdem erinnert sich Leo noch an den Namen einer Bekannten von Hildegards Mutter: Frau Hummel.

Leo Ryan steigen Tränen in die Augen beim Gedanken, dass er Hildegard noch einmal sprechen könnte. "Ich möchte mich so gerne bedanken. Für das Amulett und für Hildegards Freundschaft."

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