Der Kiebitz zum Beispiel. "Es ist 30 Jahre her, da war der Kiebitz bei uns im Werdenfelser Land extrem häufig", sagt Einhard Bezzel. In Schwärmen tummelten sich die taubengroßen Vögel mit dem schwarz-weißen Gefieder und der markanten, zweizipfeligen Haube auf dem Kopf Anfang der Achtzigerjahre auf den Weiden rund um Garmisch-Partenkirchen.
Auch in den Moorlandschaften bei Murnau flogen sie gerne umher. Natürlich konnte man sie auch bei Krün beobachten, wie sie auf den Wiesen nach Regenwürmern stocherten. Wer heute im Werdenfelser Land Kiebitze beobachten will, muss viel Glück haben. "Der Kiebitz ist hier bei uns praktisch verschwunden", sagt Bezzel.
Schmales Heft mit sperrigem Titel
Einhard Bezzel muss es wissen. Es gibt nur wenige Ornithologen, die sich so gut mit der heimischen Vogelwelt im Werdenfelser Land auskennen wie der langjährige Leiter der Vogelschutzwarte in Garmisch-Partenkirchen. Zwar ist der 80-jährige ehemalige Biologie- und Chemielehrer, der die Vogelschutzwarte zu einer renommierten Einrichtung gemacht hat, nun schon viele Jahre im Ruhestand. Aber er ist nach wie vor als Forscher aktiv, seine Arbeiten haben einen herausragenden Ruf in der Szene.
Außerdem ist Bezzel bekannt dafür, dass er Klartext spricht. Dieser Tage hat der Vogelkundler seine neue Studie vorgelegt. Das 80 Seiten schmale Heft trägt den etwas sperrigen Titel: "Bilanz. Vögel in einer Urlaubs- und Gesundheitsregion am Nordrand der Alpen." Es dokumentiert nichts weniger als den dramatischen Niedergang der Vogelwelt im Werdenfelser Land in den vergangenen 30 Jahren.
Der Schwund betrifft zwei Drittel der Vogelarten
Was für den Kiebitz gilt, gilt für die meisten anderen Vogelarten, die in der Gegend rund um Garmisch daheim sind. Egal ob es der Feldspatz ist oder der Hausspatz, das Braunkehlchen oder der Grünfink, die Mehlschwalbe oder der Mauersegler, der Grünspecht oder der Tannenhäher - der Schwund betrifft zwei Drittel der Vogelarten in der Region, die eine mit zehn oder 15 Prozent, die andere mit 60, 65 und wieder andere mit 90 und mehr.
Unterm Strich ist der Verlust dramatisch: Alles in allem, so hat Bezzel ermittelt, leben heute im Werdenfelser Land 36 Prozent weniger Vögel als zu Beginn der Achtzigerjahre. 36 Prozent, das ist mehr als ein Drittel. Das Erschreckende daran: Die Verluste betreffen durchwegs Allerweltsarten - Arten, die besonders häufig und in großer Zahl anzutreffen waren und es zum Teil noch sind.
Neubaugebiet nach Neubaugebiet
Ausgerechnet das Werdenfelser Land, möchte man jetzt ausrufen. Das Werdenfelser Land, das der Inbegriff des intakten Bayerns ist. Hier sind die Wiesen und Weiden sattgrün, immer wieder mal trifft man auch noch auf Hecken und Gehölze und in den Bergwäldern wachsen nicht nur Fichten, sondern auch Buchen, Ahornbäume und sogar Tannen. Zu Tausenden strömen Ausflügler und Urlauber in die Region. Und Lokalpolitiker und Touristiker betonen bei jeder Gelegenheit, dass ihnen keine Anstrengung zu gering ist, wenn es um die Bewahrung ihrer Heimat geht.
Die Gründe für die Verluste sind freilich die gleichen wie überall in Bayern. Da ist der Flächenfraß. Eine jede Gemeinde in der Region, und sei sie noch so klein, weist Neubaugebiet nach Neubaugebiet aus und schafft Bauplätze für Discounter und anderes Gewerbe. So zeigen Luftaufnahmen von Garmisch-Partenkirchen und Burgrain, wie die beiden Orte allmählich zusammenwachsen. Bayernweit gehen durch die Bauwut täglich 18 Hektar freies Land verloren und damit Lebensraum für Vögel, aber auch allerlei andere Tiere.
Massiver Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln
Es sind aber auch die Bauern und die Kleingärtner mit ihrem massiven Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln, die den Vögeln und anderen Wildtieren das Überleben schwer machen. Egal ob Disteln, Brennnessel oder andere Wiesenpflanzen, sie alle werden rücksichtslos ausgemerzt.
Die Wiesen sowohl außerhalb der Dörfer als auch in den Gärten sollen möglichst ebenmäßig sein. Für die Milchbauern gibt es sogar eigene Leitfäden für sogenanntes Unkrautmanagement. Immer weniger Pflanzenvielfalt heißt aber auch immer weniger Nahrung für die Vögel. "Wo es keine Disteln mehr gibt, hat auch der Distelfink keine Chance mehr", sagt Bezzel.
Es trifft nicht nur die Vogelwelt
Die neue Studie des Vogelkundlers betrifft nicht nur das Werdenfelser Land. Sie lässt sich auf ganz Bayern übertragen. "Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Vogelpopulation jedes Jahr um einen Prozentpunkt schrumpft", sagt der Forscher. "In den reinen Agrarlandschaften in Unterfranken und im Rottal eher noch stärker." Und natürlich trifft es nicht nur die Vogelwelt. "Schmetterlinge, Bienen und andere Insekten sind genauso betroffen wie Regenwürmer und andere Bodentiere", sagt Bezzel. "Nur dass die Vogelwelt sehr viel besser erforscht ist und sich die Verluste hier sehr viel besser aufzeigen lassen."
Es gibt freilich auch Gewinner. So hat sich die Zahl der Elstern in den letzten 30 Jahren verdoppelt. Auch die Rabenkrähen sind mehr geworden. Und die Höckerschwäne. "Das liegt am Klimawandel", sagt Bezzel. "Das sind alles Arten, die davon profitieren, dass es bei uns immer milder wird."
Die Gewinne können die Verluste aber auf keinen Fall wettmachen. "Wir haben nur zehn Arten gezählt, deren Bestände um 50 Prozent oder mehr zugenommen haben", sagt Bezzel. "Dafür sind sie bei 30 anderen Arten um wenigstens 50 Prozent eingebrochen."
Einhard Bezzel: Bilanz. Vögel in einer Urlaubs- und Gesundheitsregion am Nordrand der Alpen. Ornithologischer Anzeiger, Sonderdruck. München 2014