Süddeutsche Zeitung

Streit um "Stille Nacht, heilige Nacht":Der holde Knabe kehrt zurück

  • In Amerika hat das Weihnachtslied "Silent Night" eine Massenbegeisterung ausgelöst. Viele US-Bürger halten das Lied aus dem Salzburger Land gar für ein amerikanisches Volkslied.
  • In Europa provoziert das Lied hingegen Skepsis und Ablehnung. Im Gesangbuch der katholischen Bistümer wurde in den letzten 40 Jahren nur noch der Text abgedruckt.
  • Erst seit 2013 präsentiert das Gotteslob dieses weltberühmte Lied wieder mit Text und Melodie.

Von Hans Kratzer

Die ersten, die das Weihnachtslied "Stille Nacht" auf einer Schallplatte verewigt haben, waren vier amerikanische Sänger, die eine Schwäche für Österreich hatten: Sie nannten sich Haydn-Quartett. Ihre A-cappella-Aufnahme aus dem Jahr 1905 kann man sich auf dem Internetkanal YouTube anhören. Technisch ausgereifter klingt natürlich die "Silent Night"-Version, die der US-Sänger Bing Crosby 30 Jahre später aufgenommen hat. Es wurde eine Platte der Superlative, 30 Millionen Mal soll sie verkauft worden sein.

Viele Amerikaner halten "Silent Night" sowieso für ein amerikanisches Volkslied. Dabei stammt es eindeutig aus dem Salzburger Land: Hier wurde der romantische Text von "Stille Nacht" verfasst, hier wurde das Lied komponiert und hier wurde es zum ersten Mal gesungen.

Der Massenbegeisterung, die es in Amerika entfacht hat, setzte Europa eher eine innere Freude entgegen. Auf dem alten Kontinent provozierte das Lied sogar Skepsis und Ablehnung, mag es auch in 300 Sprachen übersetzt worden sein. Vor allem nach dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-65) und während der Zeit der 68er-Protestbewegung war "Stille Nacht" in Deutschland verpönt. Fast wäre es aus dem Kanon der kirchlichen Weihnachtslieder entfernt worden. Tatsächlich war im Gotteslob, dem Gebet- und Gesangbuch der katholischen Bistümer, seit 1975 nur mehr der Text des Liedes abgedruckt, nicht aber die Melodie. Erst seit 2013 präsentiert das Gotteslob dieses weltberühmte Lied wieder mit Text und Melodie - nach 40-jähriger Unterbrechung.

Wider dem Zeitgeist

In den Sechziger- und Siebzigerjahren liefen viele Weihnachtslieder dem Zeitgeist zuwider. Prompt verschwanden sie aus dem kirchlichen Gesangbuch. Kaum zu glauben, dass hier von Liedern wie "Der Mond ist aufgegangen", "Maria durch den Dornwald ging" und "O du Fröhliche!" die Rede ist. Erst jetzt wurden diese volksliedhaften Klassiker wieder ins Gotteslob aufgenommen. Gerald Fischer, der Musikdirektor der Erzdiözese München, sagt, nach dem Konzil habe es bei einem Teil des Klerus Widerstände gegen emotionale Lieder gegeben, die wenig theologischen Inhalt haben. Deshalb habe man sie verschmäht.

Auch der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier erinnert sich noch gut an die weltlichen und kirchlichen Kampagnen gegen "Stille Nacht". "Das Lied galt als kitschig und unangemessen", sagt Maier. "Man glaubte, es sei theologisch nicht auf der Höhe. In der Musik herrschte damals eine Abräummentalität, ähnlich wie in der Denkmalpflege, wo die Modernisierer rigoros gegen Jugendstil und nazarenische Kunst vorgegangen sind." Maier war von 1976 bis 1988 auch Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und kritisierte als solcher die Verbannung von "Stille Nacht" heftig. "Aber das nahm man mir krumm." Die Gläubigen scherten sich allerdings wenig um akademische Debatten. "Sie sangen das Lied trotzdem", erinnert sich Maier.

Die Purifikationswelle habe der Kirche durchaus geschadet, sagt Musikdirektor Fischer. Man habe damals nicht berücksichtigt, dass die weihnachtlichen Emotionen der Menschen untrennbar mit diesen Liedern verknüpft sind. "Die Menschen wollen an Weihnachten ,Stille Nacht' singen, das ist ein zentrales Anliegen."

Ungeachtet dessen machten sich die 68er Studenten über kirchliche Traditionslieder lustig und nannten sie spöttisch "Christtagsjodel". Sie sahen in Weisen wie "Stille Nacht" einen Ausdruck der "verlogenen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft". Der Spiegel schrieb von "ranzigem Balsam", die ehrwürdige Münchner Abendzeitung dichtete die Schlagzeile "Schnulzen-Festival unterm Weihnachtsbaum".

In diesen turbulenten Jahren wetterten aber nicht nur die Linken gegen den "holden Knaben im lockigen Haar", sondern sogar der katholische Pfarrgemeinderat im oberbayerischen Miesbach: Mit großer Mehrheit hatte der Rat 1969 beschlossen, "Stille Nacht" in den Weihnachtsgottesdiensten nicht mehr anstimmen zu lassen. Die Begründung: Text und Melodie hätten durch einen zweckentfremdeten Allgemeingebrauch den Wert für einen liturgischen Gebrauch verloren.

Durch Miesbach ging ein Riss. Für die einen war die Christmette ohne "Stille Nacht" keine Weihnacht, für die anderen war das traute hochheilige Paar gleichsam an der Konsumfront gefallen. Dazu passt ein kluger Gedanke, den der Chordirektor Friedrich Limbacher damals in einem Leserbrief festhielt: "Stille Nacht stört nur da, wo es verkitscht wird und die Kauflust anheizen soll."

Tatsächlich war die Melodie durch exzessives Abnudeln in den Kaufhäusern total verschlissen. Auch andere Klassiker wie "O du Fröhliche", "O Tannenbaum" und "Kommet ihr Hirten" verkamen in den Kaufhäusern zur nervtötenden Dudelmusik. Eine österreichische Gewerkschaft beklagte sich über seelische Folter durch die Weihnachtsmusik.

Auch die Geschäftswelt kommt zur Besinnung

Man einigte sich auf einen Kompromiss: "Stille Nacht" erklingt seither in den Kaufhäusern der Alpenrepublik nur noch am 24. Dezember. Auch die bayerische Geschäftswelt kam zur Besinnung, nachdem Kirchenchöre und Cäcilienverband die Kaufhäuser aufgefordert hatten, im Advent auf das Abspielen von kirchlichen Weihnachtsliedern zu verzichten. Werbung habe nichts mit dem eigentlichen Anliegen der Lieder zu tun, nämlich die Geburt Christi zu verkünden.

Freilich, auch im 19. Jahrhundert hatten die Texte der Weihnachtslieder mit der christlichen Weihnachtsbotschaft wenig zu tun. Auf die Melodie des Liedes "Morgen kommt der Weihnachtsmann" (1835) sang man ein schlüpfriges Chanson. Und Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) dichtete unverhohlen militaristisch: "Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben, Trommel, Pfeifen und Gewehr, Fahn und Säbel und noch mehr."

Solche Verirrungen wird man an diesem Mittwoch in der Christmette im Münchner Dom nicht zu hören bekommen. Prälat Josef Obermaier freut sich darauf, dass dann die Urfassung von "Stille Nacht" gesungen wird, die etwas verschnörkelter und schwieriger klingt als jene einfache Fassung, die normalerweise angestimmt wird.

Die österreichische Stille-Nacht-Gesellschaft wirbt für die authentische, sechsstrophige Fassung, wie sie der Hilfspfarrer Mohr und der Organist Gruber im Dezember 1818 vollendet hatten. Den Opernsänger Placido Domingo hat sie sogar zu der Aussage verleitet, "Stille Nacht, heilige Nacht" wäre als Welt-Friedenslied prädestiniert wie kaum ein anderes Lied auf der Erde.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2014/bica
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