Mitten in Bayern :Digitalisierte Stammtische

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Stammtisch-Schild mit Spruch "Mir san mir" am Biergarten am Wiener Platz. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Der gute alte Nachbarschaftstratsch ist längst dem anonymen Stadtleben zum Opfer gefallen und selbst an Stammtischen wird - mangels Stammtischen - kaum noch getratscht. Aber das digitale Zeitalter bietet selbst dafür noch Nischen.

Kolumne von Johann Osel

Der gute alte Dorf- und Stadtvierteltratsch ist längst nicht mehr das, was er mal war. Mustergültig beschrieben wurde der vor gut 100 Jahren in der Wochenzeitung Münchener Ratsch-Kathl: Es böten sich überall "niedliche Gelegenheiten, Ratschweiber beim lieblichen Wort- und Gedankenaustausch zu beobachten". In den Hofeingängen bildeten sich "Läster-Alleen", da würden alle Nachbarn - und deren Besucher sowieso - "durchgehechelt, daß kein gutes Haar an den Leuten bleibt".

Ähnliches gilt für den Stammtisch, den der Schriftsteller und Satiriker Jan Cornelius mal so schilderte: "Am Stammtisch sitzen nur Experten, / für Wirtschaft, Politik und so, / die alles fachmännisch bewerten, / bis sie das Bier dann treibt aufs Klo." Und heute? Das Stadtleben ist anonym, Nachbarn kennen sich kaum; und auf dem Land macht Wirtshaus um Wirtshaus zu, mitsamt Stammtischen. Der Lokaltratsch läuft mittlerweile, wie sollte es anders sein, digitalisiert.

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"Du kommst aus . . ." heißen viele regionale Facebook-Gruppen, in denen eifrig geplaudert wird - aus Passau, Weilheim, Freilassing oder Hauzenberg. Da erörtert man, wo es gebrannt hat, dass wieder so ein Saubär Müll in den Wald geworfen hat, dass Katzenbabys abzugeben sind oder warum es hier am Ort so schön ist.

Der Zulauf ist enorm, die Gruppen zählen oft Tausende Mitglieder. 7000 sind es bei "Chiemgau - Do bin i dahoam". Deren Gründer haben schon mehrmals reale Treffen einberufen. Diesmal müssen sie wegen der Beliebtheit dafür mit einem Kulturzentrum planen und ein "Festival" veranstalten. Ein Schwerpunkt der Gruppe ist gleichwohl Lobpreis der Natur. Was wohl auch an den vielen Tages-Chiemgauern der Gruppe liegt, Ausflüglern aus München. Es wird ein freudiges Festival.

Anders in der Oberpfalz. "Mein schöner Landkreis Cham" zählt gut 1500 Mitglieder, mehr als 5000 sind es in der Gruppe "Wos mir an Cham stinkt". Was ihnen stinkt an Cham, lässt sich in bestem grantelndem Ratsch kundtun: gesperrte Straßen, Weihnachtsbeleuchtung bis Ostern, versiffte Schultoiletten, fehlende Taxis, Falschparker, Türken-Pop in der Disco, Chams eingebildete Damenwelt, die nur auf "Typen mit Schwulettenfrisur" abfahre. Auch hier ist ein Austausch im echten Leben geplant: Im Jahr 2027, so die Macher, soll es ein "Grantlerfest" geben.

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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