Senta ist schon da, wenn Roland Böer, der Nürnberger Generalmusikdirektor, das Vorspiel auskostet, den Wechsel der verschiedenen Tempi durchaus ein bisschen im Extrem probiert, mit dynamischem Puls ein nie auf einer Idee stehenbleibendes Dirigat durchzieht, das im weiteren Verlauf in manchen Abteilungen ein paar Wackler evoziert.
Aber das ist egal, gerade die Streicher spielen an diesem Abend fast schon betörend schön. Senta malt indes. Anna Gabler trägt einen weißen Overall, über und über mit Farbe bekleckst, sie malt auf der Leinwand auf ihrer Staffelei das Bühnenbild, das man gleich sehen wird, sie malt natürlich auch den Holländer, sie erfindet vielleicht sogar die ganze Aufführung, deren ganze Geschichte, aber diesen Gedanken muss man nicht unbedingt weiter verfolgen, auch wenn man ihn nie ganz loswird.
Anika Rutkofsky hat am Staatstheater Nürnberg, das schon jetzt, mehr als zwei Monate vor deren Ende, auf die vom Publikumszuspruch her erfolgreichste Saison jemals zusteuert, Richard Wagners „Fliegenden Holländer“ wenn schon nicht umgekrempelt, so doch in manchen Aspekten in Bereiche transferiert, die überraschend, nicht durchgängig, aber doch oft sinnstiftend sind. Und um das gleich zu fragen: Ist Senta am Ende „treu bis zum Tod“ (was einem ja ohnehin Grusel bereitet, aber daran ist Wagner nicht schuld)? Erlösungsfantasie des Mannes? Diese Senta? Anna Gabler? Die nimmt ihr Los schon selbst in die Hand.
Im ersten Akt mit einem effektvollen Schiffsgerippe von Julius Theodor Semmelmann, das für beide Schiffe, das des Holländers und das des Dalands, Sentas Vater, steht, malt Senta erst mal weiter (sie tritt ja eigentlich erst im zweiten Akt auf). Auf der Bühne gehen surreale Fantasiegestalten spazieren, die Mannschaft Dalands feiert ein Kostümfest. Der Steuermann (Hans Kittelmann) hat eine lange Peitsche, einen Hang zu Sadismus, ein großes Vibrato und schöne lyrische Farben in der Stimme. Daland selbst wird schnell zum aasigen Schacherer, Taras Konoshchenko hat überhaupt keine Scheu, ihn unsympathisch zu gestalten, aber er singt die Partie großartig, jedes Wort plastisch, seine Stimme ist weich, aber gewaltig.

Drückt ihm der Holländer zum Beweis seines Reichtums eine goldene Maske in die Hand, die an die Agamemnons erinnert, ist er glücklich. Und man merkt, der Holländer ist schon länger unterwegs, länger noch, als man ihm ansieht – Jochen Kupfer wirkt einem Rembrandt-Gemälde entstiegen. Er hat eine faszinierende Haltung zu seiner Figur, man spürt deren Sehnsucht, aber er ist auch schrecklich aufgeregt – es ist sein Rollendebüt. Das wird schon noch, er hat alle Anlagen für einen tollen Holländer.
Wir befinden uns nach Anika Rutkofsky irgendwo in den Übersee-Kolonien, Erik (Sentas, nun ja, Verlobter) ist ein Imker und langweilig, Mary bastelt Skulpturen aus Zucker, Überlebenselixier für die anämisch herumhängenden Spinnerinnen, hier gutgekleidete Gespenster, aber ausgezeichnet bei Stimme. Mithin scheint Dalands Geschäft darin zu bestehen, Zucker und Honig zu exportieren, so ganz klar ist das nicht, doch denkt man bei Kolonien natürlich an Ausbeutung, an Kapitalismus auf Kosten anderer, und was tut denn Daland? Verschachert seine Tochter, weil er Reichtum wittert.
Das geht naturgemäß nicht gut aus: Die vom zweiten Akt an in einem hübschen Salon beheimatete Gesellschaft wird beim Willkommensfest ob der Anwesenheit der Holländer-Mannschaft irre, verfällt in Anfälle von Autoaggression – hier galoppiert Rutkofkys Spiel mit surrealen Einfällen ein wenig übers Ziel hinaus. Des Holländers Mannschaft taucht nie auf, man hört sie, sie ist in den Köpfen der Kolonialgesellschaft.
Also doch alles ein Spuk? Senta erfindet selbst, wohin sich ihre Sehnsucht richtet. Anna Gablers Erzählung der Ballade im zweiten Akt ist ein in den Höhen gleißendes Ereignis, ist flackernde Verzückung ob der Geschichte, hat sicher viel Irrsinn und vor allem dramatische Schönheit. Am Ende ist sie wieder allein, vor der Gaze, hinter der alle anderen und mit ihnen der Holländer verschwinden. Senta lebt. Und löscht mit schwarzer Farbe das Bild aus. Alles dunkel. Dann geht Gabler zur Seite ab.
Der Fliegende Holländer, Staatstheater Nürnberg, nächste Termine: So., 25.5., S0., 1.6., Di., 3.6., jeweils um 19 Uhr, weitere unter: www.staatstheater-nuernberg.de