Spiegelhütte:Über d' Grenz

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Für den Erfolg der Glashütten im Bayerwald waren maßgeblich sudetendeutsche Arbeiter verantwortlich. Nach dem Krieg retteten viele von drüben ihr Hab und Gut nach Spiegelhütte - samt den Kindern im Rucksack

Von Ralf Scharnitzky, Spiegelhütte

"Da", sagt Hans Richter lachend, "bin ich in die Hochschule gegangen." Dabei zeigt er auf das Gebäude oben am Hang, vier Klassen in einem Raum. Otto Schettl, 84, und damit knapp 30 Jahre älter als der Tourismus-Chef, hat noch Unterricht mit acht Klassen in einem Zimmer erlebt. Die damalige Volksschule ist schon seit Jahrzehnten geschlossen. Nicht mal ein Dutzend Schulkinder leben noch in Spiegelhütte, einem kleinen Ortsteil von Lindberg im Bayerischen Wald. Ein abgelegener Flecken mit nicht einmal mehr 100 Einwohnern - aber einer ganz besonderen Geschichte.

Lindberg an sich ist schon ein bemerkenswerter Erholungsort im Zwieseler Winkel: Nicht nur, dass hier das Nationalparkzentrum Falkenstein im 1997 erweiterten Teil des Nationalparks Bayerischer Wald Hunderttausende Touristen anlockt. Gleich in vier Ortsteilen der Gemeinde finden sich zudem kleine Schlösser, wohl einmalig im Bayerwald: Herrensitze der Adelsfamilie von Poschinger, in denen die Familienmitglieder des Clans als Direktoren der vier Glashütten von Lindberg residierten. Einen der Betriebe hatte Benedikt von Poschinger 1834 in Spiegelhütte erbaut; am Rande seines Gutes Oberzwieselau. Bei der Teilung des weitläufigen Anwesens ging die Glashütte zwanzig Jahre später in den Besitz seines Sohnes Ferdinand über, der das benachbarte landwirtschaftliche Gut Buchenau betrieb.

Die Hütte, in der um 1900 die berühmten und heute noch bei Sammlern gefragten Jugendstilvasen hergestellt wurden, lockte zahlreiche Glasmacher und Holzhauer aus Deutschböhmen an. Die Arbeiterwohnhäuser und die Werkstätten wurden amtlich immer wieder als vorbildlich gelobt - vor allem wegen der Hygiene. Der verstorbene Heimatautor Roman Eder, letzter Schullehrer in Buchenau, schreibt in seinem Buch "Über d' Grenz", dass die "sudetendeutschen Arbeitnehmer" gerne herüber gingen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen: "Immer wieder erzählten sie, wie unsicher drüben die Arbeitsplätze waren." Allerdings begaben sie sich auch, so Eder, in launische Hände. Gute Glasmacher, Schmelzer und Veredler, die man nicht so einfach auf der Straße fand, umwarb Ferdinand von Poschinger. Mit den Leuten von drüben ging er unsensibler um: "Wenn dir das nicht passt, dann geh! Wenn ich hinauf an die Grenze reite und pfeife, dann kommen hundert andere", musste sich so mancher "Gastarbeiter" anhören. Anfang 1931 wurde die Glashütte geschlossen - aber sie hatte den Grundstein für ein besonderes Kapitel in der Dorfgeschichte gelegt.

Nach der Wiedereinrichtung der ČSSR nach Kriegsende 1945 ahnten die Böhmerwäldler, die jetzt nicht mehr in der Glashütte, sondern vor allem in den bayerischen Wäldern arbeiteten, dass sie Besitz und Heimat verlieren würden. Also versuchten sie Hab und Gut über die Grenze zu retten, um an ihrem Arbeitsort heimisch zu werden. Einige wurden dabei erwischt: Manch tschecheslowakischer Grenzer drückte ein Auge zu, andere nahmen die Schmuggler fest und wieder andere feuerten gezielt. Unter den Grenzgängern waren auch Tote zu beklagen: "In abenteuerlichen Märschen wurde in Rucksäcken ins Bayerische herüber getragen, was man für unentbehrlich hielt: Nähmaschinen, Schreibmaschinen, Bettwäsche, Hausrat, Schmuck, Kleidung und manch anderes," heißt es bei Eder.

Etwa bei der Fabrikantenfamilie von Poschinger, deren Schlösschen heute Eigentumswohnungen beherbergt. (Foto: Ralf Scharnitzky)

Und "manch anderes" war dann schon mal ein kleines Mädchen - wie die 75-jährige Traudl Graßl, die als Fünfjährige auf dem Rücken ihres Vaters nach Spiegelhütte kam: "Ich bin eine Rucksack-Böhmin", lacht sie. Sie ist eine der wenigen lebenden Spiegelhütter, die in ihre neue Heimat geflohen sind. Die meisten Senioren sind dort geboren. Ihre Väter und/oder Mütter waren zuvor über die Grenze gekommen: der Vater des 84-jährigen Schettl sogar schon 1899, damals selbst ein Kind. Auch Emma Zelesny, 83, und Franziska Krickl, 80, haben die Fluchtwelle und die Vertreibung hautnah miterlebt - 1938 lebten 221 Menschen in Spiegelhütte, 1946 waren es 371 - 150 Menschen mehr. Viele der geflohenen oder vertriebenen Böhmerwäldler wohnten erst einmal in der ehemaligen Direktoren-Villa, dem Poschinger-Schlösschen: 15 Zimmer, 15 Familien.

Tourismus-Chef Richter hat die Senioren ins "Forsthausstüberl" eingeladen. Auch die 74-jährige Wirtin Anneliese Strassner gehört zur letzten Generation, die Flucht, Vertreibung oder deren Folgen direkt miterlebt hat. Die Geschichten, die im gemütlichen Gastraum wieder aufleben, etwa über die legendären böhmischen Faschingsfeste oder die Arbeit als Pflanzerinnen ("Kulturweiber") im Holz, werden aber noch lange weiter erzählt werden. Denn kaum eine Familie in Spiegelhütte hat ihre Wurzeln nicht im Böhmerwald.

Für die Tipps danken wir Alfred Günther aus Zwiesel und Ernst Friedl aus Deggendorf.

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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