Familien:Warum Alleinerziehende in Bayern Exoten im eigenen Land sind

383 000 Single-Eltern gibt es in Bayern, fast alle sind Frauen. Viele leben an der Grenze zum Burn-Out oder zur Armut.

Von Stefanie Huschle

Vom Klingelschild wurde ein Name abgerissen, vor etwa eineinhalb Jahren muss das gewesen sein. Seitdem wohnen in dem Haus in einem kleinen Dorf im Landkreis Freising nur noch Mutter, Kleinkind, Kind. Kein Vater. Nicole Jung, die eigentlich anders heißt, öffnet die Tür. Die 35-Jährige ist alleinerziehend.

Alleinerziehend, das ist ein absurder Begriff. Als würden Kinder getrennter Eltern nur noch von einem Elternteil erzogen, als wäre der andere Elternteil gar nicht mehr verantwortlich. "Ich finde den Begriff schrecklich, obwohl er bei mir leider ziemlich gut zutrifft", sagt Jung. Der Vater ist selbständig, drücke sich bisher erfolgreich davor Unterhalt zu zahlen und zeige sich auch sonst wenig kooperativ. "Ich habe Papa das letzte Mal im Februar besucht", erzählt der Sohn. Bald wird er ihn wiedersehen, er freut sich schon.

Es ist acht Uhr, Schulferien, sonst wären Jung und ihre Kinder schon längst aus dem Haus. "Heute ist alles ein bisschen entspannter als sonst", sagt sie - "gezwungenermaßen." Schule und Kindergarten haben geschlossen. Der Großvater aus München passt deswegen auf die Kinder auf, aber nicht vor 10 Uhr. Darum muss Jung an diesem Tag später und dafür länger zur Arbeit. "Zum Glück ist mein Arbeitgeber so flexibel", sagt sie. "Dieses Glück haben nicht alle Alleinerziehenden."

In Bayern werden rund 16 Prozent der Familien mit Kindern unter 18 Jahren von Alleinerziehenden gemanagt, das geht aus den neuesten Zahlen des Landesamts für Statistik aus dem Jahr 2017 hervor. Insgesamt gibt es in Bayern 383 000 Alleinerziehende - eine Wählergruppe, welche die SPD und Grünen in Bayern für sich entdeckt haben. So hat die SPD im Mai einen Antrag im Landtag gestellt, in dem sie forderte, Alleinerziehende in Bayern bestmöglichst zu unterstützen. Bei den Grünen steht fett gedruckt im Wahlprogramm: "Alleinerziehende - wir lassen euch nicht allein!" Die grüne Spitzenkandidatin Katharina Schulze hat jüngst bereits zum zweiten Mal zu einem Vernetzungstreffen für Alleinerziehende in München eingeladen.

Martina Hübner aus Bad Tölz ist alleinerziehende Mutter einer dreijährigen Tochter und würde sich eine Vernetzung von Alleinerziehenden auch in ländlicheren Gegenden wünschen. "In der ländlichen heilen Welt fühlt man sich als Alleinerziehende oft wie ein Exot. Es wäre toll, wenn sich Alleinerziehende dort austauschen und gegenseitig helfen würden", sagt sie.

Nicole Jung ist eine dieser Alleinerziehenden, die auf dem Land wohnen. Einen Wohnortwechsel möchte sie ihren Kindern nicht zusätzlich zur Trennung zumuten, auch wenn das Leben in der Stadt manchmal einfacher wäre. Ständig wird vom Mangel an Kita-Plätzen in den Städten berichtet. Doch auch auf dem Land ergeben sich für Eltern Probleme, ganz besonders für Alleinerziehende: Zu kurze und unflexible Kindergarten-Öffnungszeiten, fehlende Arbeitsplätze, traditionelle Familienvorstellungen und Rollenbilder, langes Pendeln und Abhängigkeit vom Auto - das sind Themen und Probleme, die Alleinerziehende auf dem Land beschäftigen.

Und ein großer Teil der Alleinerziehenden lebt auf dem Land: 44 Prozent von ihnen wohnen in Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern. Etwas mehr als ein Viertel aller Alleinerziehenden lebt sogar in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern. Gegen die dortigen Probleme ankämpfen müssen meist die Mütter: Im Freistaat sind neun von zehn Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern Frauen. Frauen, die ihre Grenzen ständig überschreiten müssen. "Krank werden fällt einfach aus", sagt Jung. "Vor kurzem habe ich ein Buch über eine Single-Mama gelesen. Der Arzt hat zu ihr gesagt: 'Herzlichen Glückwunsch, sie haben ihren Burn-out gar nicht mitbekommen.' Ich kann mir gut vorstellen, dass das Alleinerziehenden wirklich passiert." Auch Martina Hübner sagt: "Ich habe einfach keine Zeit, krank zu sein". Die Großeltern ihrer Tochter wohnen in Sachsen und können nicht helfen. Hübner ist alleine für die Betreuung verantwortlich.

Keine Gleichberechtigung bei Alleinerziehenden

Von Gleichberechtigung kann bei der Rollenverteilung getrennter Eltern oft keine Rede sein. Der Großteil der Betreuungsarbeit liegt meist bei den Müttern, was es für diese schwierig macht, die eigene Karriere voranzutreiben. Den Karrieredämpfer und die intensive Care-Arbeit, die für ein Kleinkind geleistet werden muss, kann kein Betreuungsunterhalt wirklich ausgleichen. Dieser wird zudem oft nur solange vom anderen Elternteil gezahlt, bis das Kind drei Jahre alt ist.

Mehr als ein Drittel der alleinerziehenden Mütter verdient weniger als 1500 Euro netto im Monat, sieben Prozent sogar unter 900 Euro netto. Alleinerziehende und ihre Kinder leben häufig an der Schwelle zur Armut: Ihre Armutsgefährdungsquote lag 2015 bei 36,7 Prozent, während die durchschnittliche Gefährdungsquote in Bayern nur bei 11,6 Prozent lag.

Die Grünen und die SPD in Bayern schreiben jeweils in ihren Wahlprogrammen zur Landtagswahl, dass sie gerade zur Entlastung von Alleinerziehenden eine Kindergrundsicherung einführen möchten. Umsetzbar wären ihre Pläne nur auf Bundesebene. Dieses Problem sieht die CSU bei ihrem Familiengeld nicht: Seit dem 1. September zahlt sie dieses an alle bayerischen Familien mit ein- und zweijährigen Kindern aus. Allerdings ziehen die Jobcenter - außer in den sogenannten Optionskommunen - das Familiengeld von Hartz IV ab und folgen damit der Auffassung des Bundes, wonach es als zusätzliche Leistung angerechnet werden muss.

Jung wird vom Familiengeld nicht profitieren, denn ihr jüngstes Kind ist schon drei Jahre alt. Sie findet: "Das Familiengeld ist absurd! Das Geld landet bei regulären Familien auf den Sparkonten. Die Familien, die es wirklich brauchen, haben davon wenig. Alleinerziehende würden viel mehr davon profitieren, wenn das viele Geld in längere Betreuungsangebote investiert würde." Bei Jung ist das Geld knapp. "Es geht alles nur mit Hängen und Würgen", sagt sie. Kino? Ist nicht drin. Mit den Freundinnen in München ein Glas Wein trinken? "Was da alles zusammenkommt!": Spritkosten, Babysitter und dann noch die Preise in München.

Jung arbeitet in ihrem regulären Job 35 Stunden die Woche. Fünf Stunden davon darf sie von zu Hause aus arbeiten - anders würde es nicht gehen, denn der Kindergarten schließt um 14 Uhr. Zusätzlich zu ihrem 35-Stunden-Job hat Jung einen Nebenjob als Assistentin, der etwa acht Stunden pro Woche in Anspruch nimmt. Den Nebenjob erledigt sie abends zu Hause, wenn die Kinder schlafen.

Hübner träumt von solchen Home-Office-Möglichkeiten. Auch sie kann sich vieles nicht leisten. Die 32-Jährige würde gerne mehr arbeiten, mehr verdienen. Wegen der Öffnungszeiten des Kindergartens ginge das aber nur, wenn sie einen Teil der Arbeit zu Hause erledigen dürfte. "Ich habe schon so oft darum gebeten, dass ich einige Stunden die Woche im Home-Office arbeiten darf. Aber mein Arbeitgeber ist dafür zu unflexibel", sagt Hübner, die für ihren Job als Sachbearbeiterin jeden Tag nach München pendelt. Am liebsten hätte sie einen Arbeitsplatz in der Gegend, da würde sie die Zeit fürs Pendeln sparen - aber sie findet einfach nichts, bei dem sie so viel verdienen würde wie in München. "Wenn ich weniger verdiene, reicht es nicht mehr", sagt sie.

Abgesehen vom Zeitaufwand, den das Pendeln in Anspruch nimmt, nennt Helga Jäger vom Landesverband alleinerziehender Mütter und Väter noch ein weiteres Problem: "Pendelnde Eltern vom Land haben mir schon erzählt, dass gleich ihr Job gefährdet ist, wenn das Auto nicht funktioniert. Die Anbindung zum öffentlichen Nahverkehr ist auf dem Land nicht immer gegeben." Und trotzdem ist Pendeln oft die einzige Lösung: "Auf dem Land ist es schwieriger, einen Job zu finden, der die Existenz sichert", sagt Jäger.

"Wir brauchen mehr Flexibilität in der Kinderbetreuung"

Bei Hübner geht es trotz allem schrittweise bergauf - nicht nur, weil sie an ihren freien Wochenenden zum Stressabbau Bergsteigen geht. Ihre Wohnung riecht nach neuen Möbeln, die Küche ist noch nicht ganz eingerichtet, dafür aber das Kinderzimmer: alles rosa. Nach monatelanger Wohnungssuche ist Hübner vor einigen Wochen vom 1300-Einwohner-Dorf Sachsenkam nach Bad Tölz gezogen. Hier sind die Betreuungszeiten des Kindergartens zwar nicht optimal, aber besser als vorher: Seit dem Umzug ist von 7 bis 17 Uhr für Betreuung gesorgt. In Sachsenkam hatte der Kindergarten bis 16 Uhr geöffnet, freitags nur bis 14 Uhr. Dank des neuen Kindergartens konnte Hübner ihre Arbeitszeit von 26 auf 35 Stunden die Woche aufstocken. Wäre eine längere Betreuung gewährleistet, würde sie auch noch länger arbeiten.

Jäger kennt viele Alleinerziehende, die mehr arbeiten würden, wenn sie nur könnten. "Von den Arbeitnehmern wird immer Flexibilität gefordert. Die brauchen wir aber auch in der Kinderbetreuung, in Form von flexibleren Buchungszeiten und Randzeitenbetreuung", sagt sie. "In vielen Berufen hat man Schichtzeiten, da fehlt dann die Kinderbetreuung, die viele Alleinerziehende bräuchten, um über ihren Teilzeitjob hinaus zu kommen." Außerdem brauche es Betreuung während der Schulferien. "So viel Urlaub haben die meisten Eltern nicht", sagt Jäger. Auch Jung hat nicht so viel Urlaub. Sie muss zur Arbeit, die Kinder trödeln. "Zieht die Schuhe an", sagt sie immer wieder und wird dabei jedes mal ein bisschen lauter. Eine Szene, wie sie alle Eltern kennen. Jung meistert sie, alleine, wie jeden Tag.

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