Der Steinbrucharbeiter Matthias Kelz galt als selbstbewusst, unbequem und aufsässig. „Sehr böse und boshaft“ sei er, meldete ein Klosterverwalter in Solnhofen an die Obrigkeit nach Ansbach. Vor allem aber war Kelz ein ehrgeiziger, fleißiger und cleverer Mann, der es allen beweisen und im Leben zu etwas bringen wollte. Was den Plan verkomplizierte: Er war Katholik. Solnhofen aber, der Ort im Altmühltal, in dem er lebte und arbeitete, war als Teil der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach protestantisch. In den Steinbrüchen von Solnhofen arbeiteten Katholiken und Protestanten einigermaßen friedlich mit- und nebeneinander. Doch 1668 kam es zum großen Knall.
Im heftigen Streit mit protestantischen Kollegen und der Obrigkeit emigrieren Kelz und seine katholischen Steinbrecher-Freunde samt ihren Familien in ein anderes Reich Luftlinie drei Kilometer weiter nach Mörnsheim. Dort hat das Eichstätter Hochstift das Sagen. Es ist keine überstürzte Flucht, sondern ein gut vorbereiteter und sorgfältig geplanter Neustart. Längst haben sie in Mörnsheim ein Gelände ausgekundschaftet, das sich für einen neuen Steinbruch eignet.

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Mit dem Segen (und einem dreijährigen Steuerverzicht als Subvention) des Eichstätter Bischofs bauen Kelz und seine Leute dort bald Solnhofer Stein ab, der sich von jenem drüben aus dem namensgebenden Ort durch graublaue Farbschattierungen unterscheidet. Er findet schnell rasenden Absatz. Kelz wird ein sehr erfolgreicher Unternehmer, Mörnsheim bekommt viele Arbeitsplätze und gewissen Wohlstand, der Eichstätter Bischof freut sich über Einnahmen aus dem sogenannten Bergzins – und Solnhofen war sein Monopol los. Notgedrungen kooperierte man nach einer Phase des Beleidigtseins mit den Mörnsheimern.
357 Jahre später sind die mittelfränkische Gemeinde Solnhofen, ihr oberbayerischer Nachbar Mörnsheim und das benachbarte Langenaltheim noch immer die wichtigsten Standorte im größten Natursteinabbaugebiet Deutschlands. Zwei Gesteinssorten werden dort abgebaut: Jurakalkstein (auch Juramarmor genannt), der in der Bauwirtschaft als der bedeutendste deutsche Kalkstein gilt und auch im Garten- und Landschaftsbau oft verwendet wird. Und die Solnhofer Platten, ein Spezifikum mit einer besonderen Feinkörnigkeit. Die alten Römer verbauten sie in ihren Villen und Badehäusern entlang des Limes.

Von 1500 an begann der systematische Abbau; vor allem während der Barockzeit und im Rokoko boomte das Geschäft. Mithilfe der Flößer auf der Donau wurde der Solnhofer zum Exportschlager. In ganz Süddeutschland und Österreich sind Kathedralen, Klöster und Kirchen, Residenzen und Palais voll mit Böden, Treppenstufen oder Simsen aus Solnhofer Platten. Im Dom in Freising zum Beispiel oder jenem in Passau. Oder in den Abteien Weltenburg, Andechs, Neresheim, Ottobeuren oder Göttweig. In alten Urkunden ist bisweilen nicht vom Solnhofer, sondern von Eichstätter oder Kelheimer Platten die Rede. Drei Begriffe, ein Stein.

Was den Naturstein aus dem Altmühltal fast schon zum Mythos macht: Er ist mehr als nur ein Werkstoff. Als er vor Ewigkeiten aushärtete, schloss er Lebewesen ein, die heute als Fossilien Blicke in die Erdgeschichte erlauben. Am berühmtesten sind die Versteinerungen des als Urvogel bezeichneten Archaeopteryx, der Charles Darwin als Beweis dafür galt, dass alles Leben aus der Evolution entstanden ist. Und dann ist da noch die Bedeutung des Solnhofer für Kunst (etwa das Relief „Urteil des Paris“) und Kultur.

Der Schriftsteller, Musiker und Komponist Alois Senefelder erfand 1798 die Lithografie, ein Steindruckverfahren, für das sich der Solnhofer von seiner geologischen Beschaffenheit am geeignetsten erwies. Eine Besonderheit ist obendrein, dass keine Platte wie die andere aussieht. Jede Platte unterscheidet sich von anderen in Farbschattierungen und Optik, die oft bestimmt wird von winzigen Versteinerungen von Pflanzen oder Tieren.
Von alledem erzählt der 82-jährige Victor Henle in einem neuen, prächtigen Band, der das Zeug dafür hat, ein Standardwerk in Sachen Solnhofer zu werden. Er beschreibt ihn als Werkstoff, Wirtschaftsfaktor und Exportschlager. Vor allem aber erzählt Henle von den vielen Generationen von Menschen, die vom und mit dem Solnhofer leben. In einer von diesem Stein dominierten Parallelwelt, die dem Landstrich im Dreiländereck Franken, Altbayern und Schwaben jahrhundertelang eine ganz besondere Identität verlieh.

Bis heute ist sie nachempfindbar, am intensivsten in der Langenaltheimer Haardt, einer archaischen Mondlandschaft bestehend aus mehreren Steinbrüchen. Wer das Gebiet auf im Sommer staubigen, im Winter schlammigen Sträßlein und Wegen durchquert, kommt vorbei an verfallenen Wirtshäusern, in die einst die Steinbrucharbeiter ihre Wochenlöhne trugen. „Hackstockmeister“ heißt ihr Beruf, den es offiziell gar nicht gibt. Die Söhne lernten ihn bei ihren Vätern. Im Sommer schälten sie den Solnhofer unter zusammengenagelten Sonnendächern und im Winter in mehr oder weniger beheizten, wackeligen Holzverschlägen aus dem Steinbruch. In Handarbeit, Platte für Platte, jeder „Flinz“ nur wenige Zentimeter dick. Das „Bling, bling“ der kleinen, langstieligen Hämmerchen, mit denen sie die Platten bearbeiteten, war der Sound dieses Landstriches mitten in Bayern.
Victor Henle lebt in München, stammt aber aus einer Mörnsheimer Steindynastie und hat bis heute dort seinen Zweitwohnsitz. Beruflich war der promovierte Jurist bei der Regierung von Oberbayern unter anderem mit dem Planfeststellungsverfahren des Münchner Flughafens befasst, ehe er sein Beamtendasein aufgab, fünf Jahre lang als Journalist für den Donaukurier arbeitete und seine Karriere in Thüringen beendete, die letzten zwölf Jahre als Chef der Landesmedienanstalt. Zur 1100-Jahr-Feier seines Geburtsortes Mörnsheim schrieb Henle 2018 dessen Geschichte auf. Und verfiel beim Quellenstudium quasi nebenher einer neuen Passion: dem Solnhofer Stein.

Sein reich bebildertes und aufwendig illustriertes Buch dokumentiert nicht nur – hervorragend mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis belegt – die Geschichte eines besonderen Natursteins. Henle beschreibt damit auch bayerische Wirtschafts- und Kulturgeschichte, ein Stück Handwerks- und Industriekultur. Grundrauschen ist die Bewunderung für einen Stein und der Respekt für die Menschen, die mit ihm umgingen. Der Versuchung einer Verklärung verfällt Victor Henle nicht. Nüchtern beschreibt er, dass dieser besondere Stein seine besten Jahrhunderte hinter sich hat. Der Solnhofer kann mit billigeren Imitaten aus Italien und Asien nicht mehr mithalten, der Verkauf geht seit vielen Jahren schon kontinuierlich zurück – und damit auch die Zahl der Hackstockmeister. „Wegen seiner unvergleichlichen Besonderheit wird der Solnhofer Stein weiterhin Liebhaber und Nachfrager haben“, schreibt Henle. „Seine große Zeit ist jedoch vorbei.“
Victor Henle, „Der Solnhofer Stein Geschichte, Bau und Kunst“, Kunstverlag Josef Fink, 272 Seiten, 460 Abb., 29,80 Euro

