Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftspolitik:Söders Abwerbetour auf dem Balkan

In Rumänien und Albanien hofft Bayerns Ministerpräsident die dringend benötigten Arbeitskräfte für die heimische Wirtschaft zu finden. Wie ein Büro des Freistaats in Tirana dabei helfen soll.

Von Maximilian Gerl, Andreas Glas, Marco Hadem und Kathrin Lauer, Bukarest/Tirana

Am Montag meldet sich Bertram Brossardt aus Albanien. Normalerweise ist der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) häufig in der Münchner Innenstadt zu sehen, gerne zusammen mit dem Ministerpräsidenten. Diesmal treffen Brossardt und Markus Söder (CSU) in der Ferne aufeinander, um einem Problem daheim zu begegnen: dem Fachkräftemangel. Unter anderem soll in der albanischen Hauptstadt Tirana ein neues Büro entstehen, das hiesige Arbeiterinnen und Arbeiter schneller mit bayerischen Firmen zusammenbringt. "Ein Herzensprojekt", sagt Brossardt am Telefon und berichtet von den Gesprächen mit den örtlichen Partnern, die er gerade hinter sich hat. Und wie kommen die bayerischen Pläne am Westbalkan an? "Positiv", sagt Brossardt.

Positives erhofft sich auch Söder von der Reise. Erst Bukarest, Rumänien. Dann Tirana, Albanien. Das sind die Stationen des Ministerpräsidenten. Eine Blitzreise, morgens hin, abends zurück. Die Zeit drängt also an diesem Montag, und irgendwie gilt das auch für den Anlass dieser Exkursion. Nach und nach gehen die Babyboomer in Rente, die Kinder der geburtenstarken Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre. Im Jahr 2035, prophezeit eine Studie der Industrie- und Handelskammer (IHK), werden in Bayern fast 1,3 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Das bedeutet: Wenn nichts passiert, wird mindestens jede fünfte Stelle unbesetzt sein. Schon jetzt fehlt Personal an allen Ecken.

Die Prognose des VBW ist ebenfalls düster. Dort rechnet man damit, dass die Zahl der Erwerbstätigen bis 2035 um 700 000 sinkt. So oder so droht dem Freistaat eine Zäsur, der Wohlstand steht auf dem Spiel, und mit ihm die Erzählung vom Wohlstandsland Bayern, mit der Markus Söder seine CSU auch diesmal in die Landtagswahl führen möchte. Er muss Perspektiven schaffen in dieser Fachkräftekrise, die eigentlich eine Arbeitskräftekrise ist. Neben ausgebildeten Pflegern oder Handwerkern und IT-Spezialisten fehlen ja auch Hilfskräfte in Heimen, auf Baustellen, in Küchen. Was also tun?

Söders Strategie heißt: abwerben. Erst neulich hat der Ministerpräsident angekündigt, intensiv an Lehrerinnen und Lehrern aus anderen Bundesländern baggern zu wollen, um den Personalmangel an den Schulen zu lindern. Am Balkan plant Söder nun eine ähnliche Offensive, nur international. Besonders groß ist die Not in der Gesundheits- und Pflegebranche. Eine Studie, die das bayerische Gesundheitsministerium in Auftrag gegeben hat, rechnet vor, dass im Freistaat bis 2030 im schlimmsten Fall jede fünfte Pflegekraft wegfällt - während die Zahl der älteren, pflegebedürftigen Menschen wegen des demografischen Wandels steigt. Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) warnt seit Monaten vor einer "humanitären Katastrophe".

Der internationale Wettbewerb ist allerdings groß, die Arbeitsbedingungen sind anderswo oft besser als in Deutschland. Laut Bundesagentur für Arbeit dauert es im Schnitt mehr als sieben Monate, bis ein Heim eine Pflegekraft findet. Ein Büro mit bayerischen Mitarbeitern in Tirana soll die Prozesse also beschleunigen, vor allem die Visaverfahren, Ziel sei eine "Fast Lane". Wie das Wirtschaftsministerium mitteilt, bestehen in den Westbalkanstaaten aktuell Wartezeiten bis zu einem Jahr. Schon als 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz des Bundes in Kraft trat - das die Gewinnung ausländischer Arbeiter einfacher machen sollte -, klagten viele Unternehmer, dass ihre künftigen Mitarbeiter ein gutes Jahr auf einen Visums-Termin warten müssten.

Allerdings, auch Osteuropa braucht qualifizierte Arbeitskräfte und kreative Köpfe, die Geld ins Land holen und dort halten - vor allem angesichts der vielerorts relativ hohen Arbeitslosenzahlen. Dass die Leute zum Schaffen häufig nach Westeuropa flüchten, ruft auf dem Balkan nicht nur Begeisterung hervor. Wie sehr etwa in Rumänien das Klinikpersonal fehlt, wurde in der Corona-Pandemie sichtbar, als zahlreiche zusätzliche Betten nicht belegt werden konnten, weil Ärztinnen und Pfleger fehlten. Und während rumänische Bauarbeiter nach Westeuropa gehen, holt Rumänien inzwischen Gastarbeiter aus dem Fernen Osten, zum Beispiel aus Nepal. Premierminister Nicolae Ciucă spart das Fachkräftethema lieber aus, als er nach dem Gespräch mit seinem bayerischen Gast vor Journalisten spricht.

Söder sieht das alles weniger problematisch. Da die bayerische Wirtschaft nicht nur Personal brauche, sondern auch Investitionen zu verteilen habe, "ist es kein einseitiger, sondern ein Kanal in beide Seiten, der da vorangeht. Und der hilft dann beiden", sagt der Ministerpräsident. Sozusagen im Gegenzug für seine Abwerbemanöver bietet Söder seine Unterstützung bei den politischen Plänen der beiden Länder an, die er am Montag besucht: Während Rumänien Teil des Schengen-Raums werden will, möchte Albanien Mitglied der Europäischen Union werden.

"Da geht in allen Bereichen mehr", sagt VBW-Chef Brossardt über die albanisch-bayerischen Wirtschaftsbeziehungen. Seinem Verband schwebt vor, dass das neue Verbindungsbüro in Tirana nicht nur Fachkräfte anwerben, sondern auch den bisher überschaubaren Handel mit Albanien fördern und die berufliche Bildung stärken soll, etwa durch die Zusammenarbeit mit Schulen. Von alldem sollen bestenfalls beide Seiten profitieren, nicht nur die Bayern. "Anders ist Zusammenarbeit nicht möglich", sagt Brossardt. Die Pläne für das bayerische Büro sind jedenfalls fortgeschritten. Spätestens im Juli soll es losgehen.

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