Skifahren abseits der Pisten:Im Tiefschnee-Rausch

Skifahren abseits der Pisten: Der Pulverschnee staubt, die Sonne strahlt, der Körper findet seinen Rhythmus: Dafür lässt ein Freerider alles stehen und liegen.

Der Pulverschnee staubt, die Sonne strahlt, der Körper findet seinen Rhythmus: Dafür lässt ein Freerider alles stehen und liegen. 

(Foto: Bayerische Zugspitzbahn/Hays)

Das Risiko ist groß, die Sehnsucht nach dem Kick noch größer: Immer mehr Skifahrer suchen das Glück abseits gespurter Pisten - und setzen schon einmal Fäuste ein, um als Erster am Hang zu sein.

Von Heiner Effern

Der Schnee glitzert in der Sonne, ist frisch und reichlich gefallen, verführerisch unberührt und pulverig. Anziehend, wie ein mächtiger Magnet auf einen kleinen Metallstift. Die ersten Schwünge. Bis über die Knie reicht die weiße Decke, der Rhythmus stellt sich von selbst ein. Das Auf und Ab des Körpers ist schnell nicht mehr zu spüren. Es ist, als ob er ins Schweben kommt, scheinbar abgehoben von der Erde den Berg hinabgleitet. Eine feine Gischt aus Kristallen umstaubt den Fahrer, kalt und belebend zugleich. Alles fällt ab, in diesem Moment zählt nur dieses Hier und Jetzt, diese Adrenalinlawine, die nie enden soll.

Es gibt Skifahrer, die leben nur für diese paar Tage im Jahr, an denen die Natur zu einem solchen Tanz bittet. Freerider heißen sie heute; es sind die Tiefschnee-Liebhaber von früher. Beide Begriffe treffen den Kern, die ganz großen Gefühle sind im Spiel: Liebe und Freiheit.

Wenn es an sonnigen Tagen nach Neuschnee nur irgendwie möglich ist, lassen diese Skifahrer alles stehen und liegen, werfen die Ski ins Auto und geben schon auf der Straße Gas. Denn nur die Schnellsten finden den perfekten, unberührten Schnee vor, in dem sie ihre Spuren ziehen können. Die ersten Spuren natürlich. "Die suchen den maximalen Spaß, den ultimativen Kick", sagt Michael Lentrodt, Präsident des deutschen Bergführerverbands. Das Lebensgefühl der neuen Freerider-Generation umschreibt er mit einem Spruch, der schon länger in der Szene kursiert: "No friends on powder days."

Skifahren hat in den vergangenen Jahren einen immensen Wandel erfahren. Eine neue Generation von Tourengängern drängt so stark auf die Pisten, dass eigene Aufstiegsrouten ausgewiesen werden. Und viele Pistenfahrer, besonders junge, drängen zusehends als Freerider ins unverspurte Gelände. Sie kombinieren den Genuss des Tourengehers bei der Abfahrt mit dem Komfort des Pistenfahrers beim Aufstieg - in der Gondel oder im Sessellift.

Die Karwendelbahn in Mittenwald hat das Freeriden sogar zu einem ihrer wichtigsten Geschäftsfelder im Winter gemacht. Als sich Ende der 90er Jahre das Präparieren der Abfahrt nicht mehr lohnte, riefen die Verantwortlichen das Dammkar offiziell zum Freeride-Gebiet aus. Das hat für Skifahrer den unschätzbaren Vorteil, dass die Abfahrt von einer Lawinenkommission auf ihre Sicherheit geprüft wird.

Die Freerider warten dann schon unten an der Bahn, um die ersten in der Gondel zu sein. Stehen sie drin, erzählen sei einander, wie sie ihrem Alltag diese paar Stunden im Tiefschnee abgerungen haben. Sie sprechen zwischen Skiern hindurch, die Rocker oder Big Fat heißen und so breit sind, dass hinter ihnen die Gesicher der Fahrer verschwinden. Denn auch die Skiindustrie hat den Trend längst aufgenommen und ganze Serien von Freeride-Skiern auf den Markt gebracht. Es gilt: je breiter die Ski, umso mehr Auftrieb. Mehr Auftrieb ermöglicht es auch schlechteren Skifahrern, im Tiefschnee zu bestehen. Und verleiht guten Skifahrern Flügel. Das unberührte Dammkar sieht nach zwei Stunden Fahrbetrieb aus wie ein von Wildschweinen durchwühltes Maisfeld.

"Wie in einem amerikanischen Katastrophenfilm"

Die plötzlich deutlich größere Konkurrenz um die wenigen Tiefschneereviere in Bayern macht sich längst bemerkbar. "Szenen wie in einem amerikanischen Katastrophenfilm" hat Wolfgang Pohl, Chef einer Bergschule in Garmisch-Partenkirchen und Vorsitzender des Deutschen Skilehrerverbands, deshalb schon auf dem Zugspitzplatt beobachtet.

Die Bahn musste an einem Tag mit frischem Pulverschnee die Skifahrer in der Station zurückhalten, weil die letzten Lawinensprengungen noch nicht abgeschlossen waren. "Die Leute haben gebrüllt und mit den Fäusten an die Türen geschlagen", erzählt Pohl. Bis sie endlich hinaus durften, um die ersten Spuren zu ziehen.

"Wenn bei uns Powder-Alarm ist, dann fährt fast keiner auf der Piste, die Hänge abseits sind aber alle verspurt", sagt Peter Huber, Vorstand der Bayerischen Zugspitzbahn. Seit sich das Tiefschneefahren als Freeriden mehr und mehr in die Skigebiete verlagert, stecken Betreiber wie Huber in der Zwickmühle. Einerseits wollen sie den Freerider als zahlenden Gast gerne haben, andererseits können und wollen sie nicht die Verantwortung für Skifahrer übernehmen, die scheinbar ohne Hemmungen überall hinunterfahren.

Huber ließ deshalb dieses Jahr auf der Zugspitze sogenannte Checkpoints aufstellen, an denen Freerider den Lawinen-Lagebericht lesen, ihre elektronischen Suchgeräte testen und ihre Ausrüstung überprüfen können.

Doch die Verantwortung trage im Gelände jeder Fahrer selbst, sagt Huber. Auch der Münchner Rechtsanwalt Stefan Beulke, Experte für das Recht im Alpinismus, sieht das so. Jeder, der markierte Pisten verlässt, "fährt in vollem Umfang auf eigenes Risiko". Um die Entwicklung zu kanalisieren und die neuen Geländefahrer mit den Gefahren vertraut zu machen, haben Skilehrer und Bergführer sogar eine neue Ausbildung zum Freeride-Guide geschaffen.

Für Bergführer-Chef Lentrodt kann das richtige Abwägen von lockender Freiheit und drohenden Gefahren auch eine Schule fürs Leben sein. "Die Leute müssen wieder lernen, auch einmal zu verzichten."

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