Süddeutsche Zeitung

Sicherungsverwahrung für Vanessas Mörder:Armutszeugnis für den Umgang mit Straftätern

Es wäre ein unkalkulierbares Risiko, Vanessas Mörder jetzt freizulassen - er weiß bis heute nicht, warum er die Zwölfjährige getötet hat. In der Psychiatrie könnte man Antworten finden. Im Gefängnis nicht. Doch nun sind zehn Jahre vergeudet worden, und man weiß sich keinen anderen Rat, als Michael W. weiter einzusperren.

Hans Holzhaider

Man kann sich einen Menschen vorstellen als ein Haus, in dem es ganz verschiedenartige Zimmer gibt. Da gibt es gemütliche, kuschelige Wohnzimmer, oder hell erleuchtete und gut aufgeräumte Arbeitszimmer. Möglicherweise gibt es auch sehr karg möblierte, farblose Zimmer, die gerade das Nötigste zum Leben enthalten. Und manchmal gibt es auch eine dunkle, fensterlose Kammer, zu der sich kein Schlüssel finden lässt.

Vielleicht hat der Hausbesitzer darin vor langer Zeit etwas eingesperrt, das ihm sehr wehgetan oder ihn sehr geängstigt hat. Vielleicht hat er längst vergessen, dass es diese Kammer überhaupt gibt. Aber wenn sich diese Kammer eines Tages öffnet, aus irgendeinem Grund, den keiner kennt, dann können schreckliche Dinge geschehen.

So wie in jener Nacht im Februar 2002, als der gerade 19-jährige Michael W. in ein Haus einstieg, sich mit einem Messer in der Hand ins Kinderzimmer der zwölf-jährigen Vanessa schlich und das Mädchen mit 21 Stichen tötete. Er konnte nicht erklären, warum er das getan hat. Man hat ihn zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Nun sind die zehn Jahre um, und man müsste ihn freilassen. Aber Michael W., jetzt 30 Jahre alt, kann seine Tat auch heute nicht erklären. Die dunkle Kammer in ihm ist wieder, oder immer noch, fest verschlossen. Und nun sagt der Staatsanwalt: Wir können ihn nicht freilassen. Er ist noch genau so gefährlich wie damals. Er weiß noch nicht einmal, warum er das Mädchen getötet hat.

Ein Mensch ist kein Kochtopf

Hat er nicht recht, der Staatsanwalt? Wenn man Michael W. freiließe - wäre das nicht so, als würde man einen Dampfkochtopf, der einem um die Ohren geflogen ist, wieder auf den Herd setzen, obwohl man nicht weiß, wo der Fehler lag?

Ein Mensch ist aber kein Kochtopf. Einen kaputten Topf wirft man auf den Müll. Einen Menschen wirft man nicht auf den Müll, das jedenfalls halten wir für eine wichtige Errungenschaft unserer Zivilisation. Einen Menschen versucht man zu heilen, und zwar nach besten Kräften.

Das Gericht hat Michael W. ins Gefängnis geschickt, und nicht in eine psychiatrische Klinik, wo er zumindest die Chance auf eine angemessene Therapie gehabt hätte. Wenn einer, ohne dass er selbst weiß warum, wie besessen auf ein Kind einsticht, dann liegt es, mit normalem Hausverstand betrachtet, sehr nahe, dass mit ihm psychisch etwas nicht in Ordnung ist. Noch näher aber lag Staatsanwälten und Richtern, zumindest in der Vergangenheit, oft die Überlegung, dass einer, der etwas so Schreckliches tut, ordentlich dafür büßen soll, und nicht den vermeintlichen Kuschelvollzug in der Psychiatrie genießen darf.

Man hat Michael W. während seiner Haftzeit Gespräche mit dem Gefängnispsychologen angeboten. Gefängnispsychologen sind ehrenwerte, hart arbeitende Leute, die sich um Dutzende, manchmal Hunderte Gefangene und deren tägliche Probleme kümmern müssen. Einem Mann wie Michael W. können sie nicht helfen. Man hat Michael W. eine Malerlehre machen lassen. Das wird ihm, falls er jemals in Freiheit kommt, weiterhelfen.

Aber sein Problem - das Problem, dem Vanessa zum Opfer gefallen ist - ist nicht gelöst, weil er jetzt eine Wand tapezieren kann. Man hat ihn, kurz vor dem Ende seiner Haftzeit, in eine sozialtherapeutische Anstalt geschickt. Dort werden manchmal schöne Erfolge erzielt mit Leuten, die sich aus Frust über ihr fades Leben mit Alkohol volllaufen lassen und dann U-Bahn-Passagiere halb tot prügeln. So einer ist Michael W. aber nicht. Er braucht kein Verhaltenstraining. Er braucht jemanden, der ihm hilft, das dunkle Zimmer in seiner Seele aufzusperren und zu zähmen, was immer sich darin befindet.

Der Staat hat Michael W. zehn Jahre lang in seiner Obhut gehabt. Unter den realen Bedingungen des bayerischen Strafvollzugs war für jedermann absehbar, dass er nach diesen zehn Jahren nicht weniger gefährlich sein würde als zuvor. Zehn Jahre sind vergeudet worden, und jetzt weiß man sich keinen anderen Rat, als Michael W. weiter einzusperren. Das Urteil der Jugendkammer ist durchaus nachvollziehbar: Es wäre in der Tat ein unkalkulierbares Risiko, Michael W. jetzt freizulassen. Die Öffentlichkeit kann aufatmen. Aber dass es so kommen musste, ist eine Schande und ein Armutszeugnis für den Umgang unserer Gesellschaft mit ihren Straftätern.

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SZ vom 16.11.2012/afis
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