Sicherheit:Ein-Mann-Polizei ohne Feierabend

Sicherheit: Polizist Kai Sonten vor seiner Wache in Riedenburg.

Polizist Kai Sonten vor seiner Wache in Riedenburg.

(Foto: Sebastian Pieknik)

Kai Sonten ist "unser Polizist" im niederbayerischen Riedenburg, er ist Ermittler und Seelsorger in einer Person. Schwerverbrecher jagt er nicht, dafür hat er sogar schon mal seinen eigenen Vater verwarnt.

Von Andreas Glas

Wäre das hier ein Western, er würde jetzt vom Gaul steigen und in den Staub spucken, er würde breitbeinig zum Saloon marschieren, den Colt im Holster, würde die Schwingtür aufstoßen, die Daumen in den Gürtel haken, und erst mal nach dem Rechten schauen. Nur ist das kein Western, nicht Texas, nicht Virginia. Es ist Riedenburg, Niederbayern. Also steigt er aus seinem Kastenwagen und klemmt sich eine Aktenmappe unter den Arm. Er hat keinen Blick für den Saloon, der hier "Gasthof Schwan" heißt. Er marschiert über den kopfsteingepflasterten Marktplatz, sperrt die Tür zu seinem Büro auf. "Es gibt Tage, da kommt gar keiner", sagt Kai Sonten.

Dorfsheriff. So könnte man ihn bezeichnen. Man hat halt so seine Bilder im Kopf, wenn man das hört. Weil es nach John Wayne klingt und nach einer Zeit, als es pro Ort einen Ordnungshüter gab, der die Banditen allein bekämpfte. Ewig her. Was kaum jemand weiß: In Bayern gibt es das noch, in rund zwei Dutzend Ortschaften: kleine Polizeiwachen, in denen ein einzelner Polizist sitzt. Wenn man so will, ist Kai Sonten einer der letzten seiner Art.

Er hängt seine Schirmmütze an den Haken, setzt sich hinter den Schreibtisch. Dreimal die Woche sperrt er sein Büro auf. Montag, Mittwoch, Freitag, für jeweils zwei Stunden. Ein Teilzeitjob. Die übrige Zeit arbeitet er in der Polizeiinspektion Kelheim, der die kleine Wache in Riedenburg untergeordnet ist. In Kelheim ist Kai Sonten Sachbearbeiter für häusliche Gewalt, sein Spezialgebiet. In Riedenburg ist er der Mann für alle Fälle. Und streng genommen ist er gar kein Dorfpolizist. Riedenburg hat nur knapp 6000 Einwohner, aber es ist eine Stadt. Sein Einsatzgebiet hat einen Radius von 15 Kilometern. Er sagt: "Was ich hier mache, ist Bürgerservice."

Laut Artikel 83 der bayerischen Verfassung fällt die "örtliche Polizei" immer noch in den "eigenen Wirkungskreis der Gemeinden". Die Wirklichkeit sieht längst anders aus. Seit den Sechzigerjahren haben mehrere Reformen die Polizeiwachen in Kleinstädten und Gemeinden aufgefressen. Es gibt Inspektionen und Einsatzleitstellen, doch die klassische Dorfwache ist fast ausgestorben. Der Freistaat konzentriert seine Polizisten in den Städten, auf dem Land fahren sie meist nur noch Streife. Der Freund und Helfer ist dort eher ein flüchtiger Bekannter.

Anders in Riedenburg. Man entdeckt es nicht sofort, das blaue "Polizei"-Schild an der Fassade der Touristen-Information am Marktplatz. Hier ist Kai Sonten sozusagen Untermieter. Sein Büro ist im Erdgeschoss, 20 Quadratmeter, Linoleumboden, gelbe Wände, Röhrenlicht. Ein Schreibtisch, drei Stühle, ein paar Aktenschränke, alles Furnierholz. "Bisschen rustikal", sagt Sonten, 54. Ein freundlicher Mann, dessen graues Haar mit einer kleinen Spitze in die Stirn wächst. Manchmal witzeln die Kollegen über ihn, den "Dorfpolizisten", der es sich nur gemütlich macht. Weil große Verbrechen eher in der Großstadt passieren, weil sich dunkle Gestalten seltener in der Provinz verirren. "Wenn die Kollegen dann hören, was ich alles zu tun habe, will keiner mehr tauschen", sagt Sonten. Er sagt aber auch: "Von der großen Kriminalität sind wir hier weitgehend verschont."

Und trotzdem: Dass es die kleine Polizeiwache hier und da noch gibt, hat einen guten Grund. In weitläufigen, dünn besiedelten Gebieten dauert es oft lange, bis eine Streife aus der nächsten Inspektion am Ort ist. Ein Beispiel, sagt Kai Sonten. Kürzlich hörte er im Polizeifunk: Alarm in der Raiffeisenbank Riedenburg. Durch sein Bürofenster kann er die Bank sehen, sie liegt am Marktplatz gegenüber. Also schob er die Jalousien beiseite, spähte hinaus. "Die Leute sind normal rein und raus", sagt Sonten. Klare Sache: Fehlalarm. Aber was, wenn es ernst gewesen wäre? "Dann hätte ich den Vorteil gehabt, dass ich blitzschnell reagieren kann." Bis Verstärkung da gewesen wäre, hätte es womöglich eine Viertelstunde gedauert. Zwischen der Inspektion Kelheim und der Wache in Riedenburg liegen 17 Kilometer. "Ich kann hier drin nicht sitzen bleiben und Däumchen drehen, bis die Streife da ist", sagt Sonten.

Auch seinen Vater hat Sonten mal verwarnt

Aber wäre das nicht gefährlich, ganz allein einzugreifen? Er hätte die Bank nicht direkt gestürmt, "um eine Geiselnahme zu verhindern", sagt Sonten. Aber, klar, "ein Polizist, der allein ist, hat ein größeres Risiko". Es stimmt also nicht, das Klischee vom Dorfpolizisten in der idyllischen Seifenblase. Im Extremfall lebt ein Dorfpolizist gefährlicher als die Großstadtkollegen, die fast immer zu zweit unterwegs sind. Bevor er nach Riedenburg kam, war Kai Sonten Einsatztrainer in Landshut. Er hat Kollegen beigebracht, wie man sich in gefährlichen Situationen verhält. Als Einzelgänger kommt ihm das nun zugute. "Aber richtig brenzlig war es bis jetzt nie."

Als Einzelgänger gibt es Polizisten fast nur noch im Film. Als Dorfsheriff im Western, als Dorfgendarm in Heimatkrimis. In Film und Literatur jagt der lonesome cop nach Serienkillern, in der Realität hat er eine andere Aufgabe: Er gibt den Menschen auch dort das Gefühl der Sicherheit, wo Polizeipräsenz fast unsichtbar geworden ist: auf dem Land. Würde in Riedenburg ein Mord geschehen, wäre das sowieso ein Fall für die Kripo. Kai Sonten kümmert sich um die alltäglichen Dinge: Streit unter Nachbarn, Einbrüche, Unfallflucht. Er arbeitet nicht nur in Riedenburg, er wohnt auch hier. "Man kennt sich", sagt er. Und wer sich kennt, erzählt sich mehr. Wenn jemand etwas Verdächtigtes beobachtet, erfahre er das schnell. "Das ist ein Vorteil."

Aber macht so viel Nähe nicht blind? Weil man eher beide Augen zudrückt, falls der eigene Nachbar im Supermarkt klaut oder jemand aus dem Fußballverein, in dem Sonten Co-Trainer der Jugend ist? Nein, "da passe ich schon auf", sagt Sonten. Sogar seinen Vater habe er mal verwarnt, als der im Halteverbot stand. Dann erzählt er von den Gerüchten, die neulich durch Riedenburg waberten. An der Bushaltestelle habe jemand die Scheiben beschmiert. Die Person sei aggressiv gewesen, also holte er Verstärkung. Die Leute haben das beobachtet und hinterher hieß es, die Polizei habe einen Flüchtling mit verdächtigen Koffern überwältigt. Als Polizist, der nah an den Leuten dran ist, sei es leichter, solche Gerüchte wieder einzufangen, "weil die Leute mir vertrauen und wissen: Der Sonten erzählt keinen Schmarrn". Das Vertrauen in die Polizei zu erhalten, "sehe ich auch als meine Aufgabe an".

Eine Aufgabe, die manchmal keinen Feierabend kennt. Weil ihn die Riedenburger "unseren Polizisten" nennen und ihn auch beanspruchen, wenn er nicht im Dienst ist. Letztens, erzählt Sonten, habe ihn eine Wirtin spätabends auf dem Handy angerufen, weil im Wirtshaus jemand einen Schirm geklaut hat. "Das gehört dazu", sagt er, genau wie diejenigen, die in sein Büro kommen und "einfach nur reden" wollen. Übers Wetter, über private Probleme. "Da kann ich nicht sagen: Das interessiert mich nicht." Das sei eben sein Job: Polizist, Ermittler und Seelsorger in einer Person.

An diesem Mittwoch kommt niemand in die Wache am Marktplatz. Nicht mal Touristen, die sein Büro mit der Touristeninfo nebenan verwechseln. Mal stehen fünf Leute auf dem Flur, mal keiner. Kai Sonten hat auch so genug zu tun. Er ruft einen Mann zurück, der ein gestohlenes Auto gesichtet haben will. Eine Frau, die Angst vor ihrem aggressiven Mann hat. Eine alte Dame, deren Freundin sich in einen Trickbetrüger verliebt hat. Und Schreibarbeit hat er eh immer. Dann, um 18 Uhr, sperrt er sein Büro ab. Der Sheriff hat Schichtende.

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