Süddeutsche Zeitung

Seeshaupt:Zum Fürchten schön

Um die Pollingsrieder Kapelle ranken sich wilde Geistergeschichten. Alles Schmarrn, sagen die Ansässigen. Mystisch ist es aber schon

Von Anna Günther, Eberfing

In der Dämmerung ist es am schlimmsten. Der dichte Wald wird grün, graubraun, schwarz. Schemen zucken im Unterholz, Schatten hängen zwischen Bäumen. Die Kapelle steht wie ein Bollwerk auf der Lichtung, nur wogegen? Die nächtlichen Besucher? Und was schützt das Kirchlein? Die Lichtung zu verlassen, kommt schon mal nicht in Frage. Man flüstert, atmet flacher. Bloß nicht die Stille stören. Grillen, Blätterrauschen, leise Kuhglocken in der Ferne. Und dann Schreie. Der Atem stoppt. Sind das Käuzchen? Rehe? Die Nerven sind gespannt, man fixiert den Waldrand, starrt sekundenlang auf einen Fleck, denkt bewusst nicht an die Abgeschiedenheit. Die nächste Siedlung ist Kilometer entfernt. Vielleicht stimmen die Legenden doch.

An der kleinen Kirche soll es spuken, Eindringlingen sollen die Geister schon böse mitgespielt haben. Behauptet zumindest eine eingeschworene Gemeinde im Internet. Wer Spukorte in Bayern googelt, findet unter den ersten sechs Treffern dreimal die Pollingsrieder Kapelle. Von schwarzen Hunden, groß wie Ponys, ist da die Rede, von Wesen mit roten Augen, markerschütternden Schreien und Besuchern, die den Verstand verlieren. Erlebnisberichte lösen in den Chats monatelange Spekulationen aus. Dany zum Beispiel schreibt bei Paraportal.org von einem Ausflug zur Kapelle "als ich 13 oder 14 war". Stundenlang irrte sie mit Freunden umher, bis sie die Kapelle und fünf Brunnen fanden, angeordnet zu einem Pentagramm. Schreie aus dem Wald erschreckten die Mädchen, die Buben lachten nur. Und pinkelten in die Brunnen. Bis ein großer schwarzer Hund, "der Grimm aus Harry Potter ist ein toller Vergleich", aus dem Wald schoss und sie vertrieb. Zurück am Zeltplatz mussten die Buben mal und erschraken wieder: Sie urinierten Blut. "Nicht Blut im Urin, oder so! Blut! Dickfluessig und mit diesem Geruch nach Eisen."

Schâtt3ndämôn berichtet wortwörtlich im "Gespensterweb" von Jammern und Klagen: "Dann sahen wir die Brunnen sie waren in der form eines Pentagramms aufgebaut. Und dann das erschreckenste (Das werde ich meinen Lebtag nie vergessen) Eine Finstere schwarze gestalt in der kapelle mit schrecklichen Roten Augen." Er flieht in den Wald, irrt stundenlang umher und kommt wieder zur Kapelle. "als ich durch das Fenster schaute erschrak ich mich fast zu tode. Das Kreuz war umgedreht und die Stimmen fingen wieder an lauter den je." Wieder läuft er in den Wald, rennt gegen einen Baum und erwacht später am Waldrand - neben Schleifspuren samt Hundetatzen, die in den Wald hineinführen.

Zehn Monate diskutierte die Community Schâtt3ndämôns Erlebnisse, Danys Geschichte beschäftigte den Chat sechs Jahre lang. Die Teilnehmer spekulieren über Paranormales, bemitleiden und beglückwünschen sich, planen gemeinsam Erkundungstouren und tauschen sich über andere Spukorte aus. Auf die Frage, wo denn diese Kapelle sein soll, schreibt Schâtt3ndämôn: "Irgendwo in der nahäe von weilheim". Danys Chat arbeitet im Lauf von sechs Jahren heraus, dass es mehrere Pestkapellen im Raum Weilheim gibt. Die mit den Pentagramm-Brunnen tief im Wald und dem Hund ist Pollingsried.

Für Eduard Ott ist das alles Schmarrn. Und ein ärgerlicher noch dazu. Schon sein Vater habe mitgeholfen, das Kirchlein nach dem Zweiten Weltkrieg wieder herzurichten. Seit 76 Jahren wohnt der ehemalige Eberfinger Bürgermeister auf einem Bauernhof in der Nähe, Hunderte Male war er auf der Waldlichtung. Zur Maiandacht, zum Annafest, sogar geheiratet werde dort. Gespukt habe es nie. Wie diese Geschichten ins Internet kamen, sei das eigentliche Rätsel, sagt Ott. Als man mit Ott an einem sonnigen Vormittag in den Wald fährt, taumeln Schmetterlinge über die Wiese. Der Wind rauscht in den Blättern, es duftet nach Nadelbäumen.

Eduard Ott zückt den Schlüssel, ein Prügel aus Eisen, groß wie ein Kinderarm, und den zur Alarmanlage. "Die haben sogar die Glocken von Turm geholt", sagt Ott und zeigt aufs Dach. Neben dem Turm hängt die Warnlampe. Vandalismus sei das. Mulden im Waldboden markierten die Abwurfstelle, die Glocken lagen in einem nahen Weiher. Einbrecher hatten im Inneren Kirchenbänke aufgestapelt und abgebrannt. Die Flecken sind heute noch zu sehen. Vor fast 30 Jahren war das, zur Hochzeit des Schabernacks. Seitdem ist die Kapelle alarmgesichert. Wenn der losgeht, wird Eduard Ott aus dem Schlaf gerissen. Ob er die Polizei ruft oder selber rüberfährt, entscheide er spontan, sagt der alte Bauer. Mittlerweile seien die nächtlichen Störungen seltener, das entspanne auch seine Frau. Er finde nur noch Müll und Bierflaschen. "Von Partys", sagt er wütend. Seine Frau traut der Ruhe nicht ganz. Wie es zur Kapelle geht, solle man bitte nicht schreiben. Sonst kommen wieder diese Spuktouristen. "Sogar aus Norddeutschland fahren die her", sagt sie. "Dabei stimmt das alles nicht, was im Internet steht", fügt Eduard Ott hinzu. Einen Pestfriedhof habe es in Pollingsried nie gegeben, und in die Brunnen wurde auch niemand geworfen. Der Historiker Klaus Gast hat das recherchiert.

1998 veröffentlichte der Kreisheimatpfleger von Weilheim-Schongau die Geschichte des Weilers im "Jahrbuch Lech Isar Land". Der Gutshof Pollingsried muss demnach im 9. Jahrhundert entstanden sein, als in der Region kleine Siedlungen im Wald entstanden. Erstmals urkundlich erwähnt wurde "Riet" aus dem Besitz des Klosters Polling 1010. Um Kirche und Gut stritt ein Adeliger 150 Jahre später mit dem Kloster vor dem herzoglichen Gericht. "Der Ort hatte damit eine gewissen Tradition, weil kein ganz neuer Rodungsplatz sofort eine Kirche bekam", sagt Klaus Gast.

Im 17. Jahrhundert brannte die Kapelle ab. Sie wurde wieder aufgebaut und hat sich bis heute kaum verändert. Die Siedlung Pollingsried ist verschwunden. "Das Kirchlein dürfte der Grund sein, dass der Ort nicht vergessen wird", sagt Gast. Ein Portal zur Vergangenheit? Mit der Säkularisation 1803 kamen große Teile von Bayerns Wald in Staatsbesitz. Und der wollte den Forst im großen Stil bewirtschaften. Kleine Siedlungen wurden gekauft, abgerissen und aufgeforstet. Auch Pollingsried.

Nach 1000 Jahren kam 1856 das Ende: Der "Tonibauer", der Hof der Familie Günthner, wurde zwangsversteigert. Der Staat schlug zu. Die Besitzer des "Hoiß" und des "Baur"-Hofs gaben vier Jahre später auf. 1863 wurde Pollingsried abgerissen und Tausende Fichten gepflanzt. Nur die Brunnen erinnern noch an die Bauernhöfe. Vier sind es, nicht fünf. Einer befindet sich direkt vor der Kapelle, zwei weitere sind im nahen Unterholz. Mit gutem Willen bilden sie ein schiefes Dreieck. Die vierte Wasserstelle liegt gegenüber dem Einsiedlerhof "Tradfranz", dem einzigen Haus, das von Pollingsried geblieben ist. Der Hof lag abseits, war nicht im Weg. Die Brunnen wurden sogar schon von Tauchern untersucht, erzählt Eduard Ott. Und was haben sie gefunden? "Na, nichts." Der Altbürgermeister grinst.

Und die Pest? Die Votivtafel ist verschwunden, die Sage kennt Ott natürlich. Als 1630 die Pest grassierte, gelobten die Bürger von Eberfing, jedes Jahr am Vorabend des Sebastianstags in der Pollingsrieder Kapelle eine Messe zu feiern. Der Heilige gilt als Schutzpatron der Brunnen, er soll vor Pest und anderen Seuchen schützen. Der schwarze Tod soll in der Gegend nie mehr ausgebrochen sein. Die Kapelle wurde dem Heiligen Georg geweiht, seit dem 17. Jahrhundert verehren die Eberfinger dort die Heilige Anna. "Keine Ahnung, wieso das umgeweiht wurde", sagt Ott. Und dieser kleine Anbau mit Dach? "Da ist nichts drin, das hat mein Vater 1950 mal aufgemacht und reingeschaut." Merkwürdigkeiten gehören offenbar zu Pollingsried.

Der Wirkung der kleinen Kirche kann sich auch der Historiker nicht entziehen: "Brunnen und Kapelle ziehen bis heute die Menschen magisch an." Wer nach Pollingsried komme, spüre etwas von der Geschichte des Ortes. "Da ist eine Spur geblieben, die nach all den Jahren seit dem Verschwinden des Ortes nicht abgegangen ist." Ob das, was man dort spürt, nun Geister sind, haben sogar zwei Ghosthunter-Teams untersucht und ihre Berichte im Internet veröffentlicht. Ghosthunter-Bayern kam 2010 nach Pollingsried, machte Fotos, Film- und Tonaufnahmen, suchte mit dem "Telefon ins Jenseits", einer Konstruktion aus Drähten, faustgroßem Bergkristall, Laserpointern und einem Radio Kontakt zu den Geistern und wartete auf Reaktionen. Um die Ergebnisse zu überprüfen, kam die Gruppe 2011 noch einmal auf die Lichtung. Das Team von PSI-Hunter fuhr drei Jahre später nach Pollingsried. Und klärt erst mal die Laien auf: Paranormales gebe es auch bei Tag, nachts spielen nur die Nerven verrückt und lenken vom Eigentlichen ab. Die Methoden waren ähnlich, das Ergebnis identisch: Geister? Fehlanzeige.

Nachts verändert sich der Ort. Der Sternenhimmel ist nur schwer genießbar. Und man ist froh, nach Stunden im Wald wieder Straßenlaternen zu sehen. Da wirken sogar Reihenhäuser beruhigend.

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Quelle:
SZ vom 29.08.2015
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