Ein „Kraftpaket“ für Schweinfurt kündigte Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) im Dezember vergangenen Jahres an. 60 Millionen Euro sollen in die vom Verlust vieler Industriearbeitsplätze bedrohte Region in Unterfranken fließen. Zu dem Acht-Punkte-Plan zur Stärkung Schweinfurts, den Aiwanger gemeinsam mit Ministerpräsident Markus Söder (CSU) präsentierte, zählte auch ein Vorhaben, das zunächst weniger Aufmerksamkeit erhielt: die Verlagerung dreier Senate des bayerischen Landessozialgerichts (LSG) aus München an die Zweigstelle in Schweinfurt. Inzwischen regt sich gegen diesen Plan einiger Widerstand – aus Sozialverbänden ebenso wie aus der Landtagsopposition.
Das LSG verfügt über 20 Senate, davon 14 in München, zuständig für Oberbayern, Schwaben, Niederbayern und die Oberpfalz, und sechs in Schweinfurt, zuständig für Ober-, Mittel- und Unterfranken. Am LSG werden jene Fälle verhandelt, in denen ein Kläger gegen ein Urteil aus erster Instanz in Berufung geht. Wenn etwa das Sozialgericht Augsburg befindet, dass einem Menschen aus Memmingen mit Gehbehinderung kein neuer, von seiner Krankenkasse bezahlter Rollstuhl zusteht, kann er dagegen bisher vor dem LSG in München vorgehen. Künftig müsste er dafür möglicherweise nach Schweinfurt.
Denn das Sozialministerium hat auf Grundlage des von Söder und Aiwanger präsentierten Plans einen Gesetzentwurf für die Umstrukturierung des LSG erarbeitet, das 2024 standortübergreifend etwa 3400 Verfahren erledigte, wie es im Juristensprech heißt. Die Mehrheit endete durch Klagerücknahmen und Vergleiche, Urteile nach Verhandlungen waren seltener.
Der Entwurf sieht einen schrittweisen Umzug der Kammern vor. Bereits im November soll der erste umgesiedelte Senat seine Arbeit aufnehmen, die Umbaumaßnahmen am Gerichtsgebäude laufen. Die übrigen beiden Kammern sollen im November 2027 folgen. An diesem Donnerstag steht der Gesetzentwurf im Sozialausschuss des bayerischen Landtags auf der Tagesordnung, nach dem Willen der Staatsregierung soll das Gesetz zum 1. November in Kraft treten.

Krise der Industrie in Schweinfurt:„Die nächsten Jahre könnten brutal werden“
Schweinfurt ist Bayerns klassische Industriestadt. Nicht zuletzt die Automobilbranche hat sie stark und stolz gemacht. Und jetzt? Drohen Tausende Stellen wegzufallen – wie in ganz Bayern.
Die Verlagerung der Senate nach Schweinfurt ist als Teil ihrer Strategie zu verstehen, Behörden auch außerhalb Münchens anzusiedeln, um strukturschwache Gegenden zu stärken, besonders im ländlichen Raum. Durch die Verlagerung solle die Zweigstelle Schweinfurt „aufgewertet“ und der Wirtschaftsstandort „gestärkt“ werden, heißt es im Gesetzentwurf. Es würden Arbeitsplätze für richterliches und nichtrichterliches Personal geschaffen.
Harald Hesral hält letzteres Argument für nicht besonders schlagkräftig. Drei Senate würden Schweinfurt – neben den Richterinnen und Richtern – höchstens drei neue Vollzeitstellen auf der Gerichts-Geschäftsstelle bringen, rechnet der Vorsitzende des Fachverbands Sozialgerichtsbarkeit beim Bayerischen Richterverein vor. „Das bringt nicht viel für Schweinfurt“, sagt Hesral, selbst Richter am LSG in München, am Telefon. Stattdessen würde der Umbau des Gerichtsgebäudes Geld kosten – wie viel, das könne, so heißt es im Gesetzentwurf aus dem Juni, „derzeit noch nicht beziffert werden“.
Ein anderes Argument gegen die Verlagerung wiegt aus Hesrals Sicht aber ohnehin viel schwerer: eine längere Anreise für mehr Kläger. Aktuell befinden sich sechs von 20 Senaten in Schweinfurt, was 30 Prozent entspricht und damit ziemlich genau dem Anteil Frankens an der bayerischen Bevölkerung sowie nach Angaben von Hesral und dem Sozialverband VdK Bayern überdies dem Anteil der Fälle aus Franken (das LSG selbst führt keine entsprechende Statistik). Künftig wären mit neun von 20 Senaten 45 Prozent in Schweinfurt, wodurch dort voraussichtlich auch südbayerische Fälle verhandelt werden müssten.
Eine Sprecherin des Sozialministeriums betont indes, dass die erste Umsetzungsstufe „der Entwicklung des Verfahrensaufkommens in Nordbayern Rechnung trage“ und noch keine Verlagerung von Fällen aus dem Süden nach Schweinfurt zur Folge habe. Von 2027 an steht dies aber zu erwarten. Zwar entscheidet das LSG-Präsidium individuell, welcher Fall wo bearbeitet wird. Ohne eine deutliche Verschiebung nach Schweinfurt werde das Gremium aber kaum auskommen, sagt Hesral.
„Auf die Betroffenen käme eine unzumutbar lange Fahrt zu“, sagt Daniel Overdiek, Leiter der Rechtsabteilung des VdK Bayern. Der Sozialverband vertritt nach eigenen Angaben 20 Prozent aller Klageverfahren, die bis vor das LSG gehen. In den meisten Fällen geht es Overdiek zufolge um Erwerbsminderungsrenten bei Krankheit oder Menschen mit Behinderung – und um die Anliegen Pflegebedürftiger.
Viele Betroffene könnten kein Auto mehr fahren, und Bahnreisen seien längst nicht barrierefrei. Weil viele Betroffene älter seien, sei auch eine Videoverhandlung – wie vom Sozialministerium vorgeschlagen – keine Alternative, sagt er. Zumal Betroffene dabei weniger als vor Ort das Gefühl hätten, rechtliches Gehör zu erhalten. Und, sagt er, eine Zweigstelle solle eigentlich dazu dienen, näher an den Menschen zu sein. Das wäre künftig nicht mehr der Fall, so Overdiek. Er halte die Stärkung der Region Schweinfurt für wichtig – „aber ich glaube, dass dieses Mittel für dieses Ziel nicht geeignet ist“.

SZ Bayern auf Whatsapp:Nachrichten aus der Bayern-Redaktion – jetzt auf Whatsapp abonnieren
Von Aschaffenburg bis Berchtesgaden: Das Bayern-Team der SZ ist im gesamten Freistaat für Sie unterwegs. Hier entlang, wenn Sie Geschichten, News und Hintergründe direkt aufs Handy bekommen möchten.
Auch andere Sozialverbände sehen die Verlegung kritisch. Vor „erheblichen Nachteilen für blinde und sehbehinderte und mobilitätseingeschränkte Menschen“ warnt der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenverband. Die Verkehrsanbindung von Schweinfurt sei gegenüber München wesentlich schlechter und Umstiege müssten von Menschen mit Behinderungen aufwendig geplant und angemeldet werden. Für viele Personen sei eine solche Reise ohne Assistenz überhaupt nicht möglich.
Doris Rauscher (SPD), Vorsitzende des Sozialausschusses, hält die Pläne ebenfalls für nicht zielführend. Für die Betroffenen gehe es häufig „um existenzielle Fragen“ und oftmals biete ihnen die mündliche Verhandlung in zweiter Instanz die erste Gelegenheit, ihr Anliegen persönlich vorzutragen, teilt sie mit. Würden alle drei Senate nach Schweinfurt verlagert, werde manchen „der Zugang zum Recht unverhältnismäßig erschwert“. Die SPD werde sich daher im Ausschuss für einen Kompromiss einsetzen, der „vertretbar“ sei: den Umzug nur eines Senats.
Richterfachverbandsvorsitzender Hesral plädiert indes für eine Umformulierung im Gesetz, statt der starren Vorgabe von neun Senaten spricht er sich für „bis zu neun Senate“ in Schweinfurt aus. So sei das LSG flexibler und das Gesetz müsse nicht erst wieder geändert werden, wenn beispielsweise ein großer Automobilhersteller in Südbayern in die Krise gerate und auf die dortigen Kammern mehr Arbeit zukäme.

