Urteil im Prozess um verhungertes Mädchen:„Unsere schlimmste Strafe haben wir schon: Pauline ist nicht mehr da“

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Die Frau und ihr Ehemann werden von ihren Anwälten in den Gerichtssaal im Landgericht begleitet. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Am Landgericht Schweinfurt müssen sich Eltern für den Tod ihrer Tochter verantworten. Sie litt während der Corona-Pandemie unter einer Essstörung, war am Ende nur noch „Haut und Knochen“. Ein Urteil fällt, doch für die Eltern ist die Strafe weitaus härter.

Von Olaf Przybilla, Schweinfurt

Kurz bevor der dritte Verhandlungstag um den Tod einer 16-Jährigen beginnt, muss die Angeklagte getröstet werden. Ihre Anwältin streichelt ihr die Schulter, ein Bild, wie man es in Gerichtssälen selten sieht. Schon am ersten Verhandlungstag am Landgericht Schweinfurt hatte die Frau – ebenso wie ihr Ehemann – eine Verantwortung eingeräumt am Tod ihrer Tochter. Vor knapp zwei Jahren, fünf Tage vor Heiligabend, haben die beiden Pauline verloren. Das Mädchen litt unter einer Essstörung, war abgemagert und ausgezehrt, soll am Ende nur noch 19 Kilogramm gewogen haben. In der Nacht vom 19. Dezember 2022 hatte Pauline zu atmen aufgehört, nach mehreren Reanimationsversuchen starb sie an multiplem Organversagen infolge von Unterernährung.

Oberstaatsanwalt Markus Küstner spricht leise, betont unschneidig: „Außergewöhnlich“ sei dieser Fall, „tragisch“ und „sehr traurig“. Der Vertreter der Anklage macht keinen Hehl daraus, dass auch er diesen Prozess zuletzt „mit sich herumgetragen“ habe. Die Eltern freilich, da sei er sicher, würden diesen Fall „ein Leben lang“ mit sich herumtragen. In jener Nacht, in der Rettungskräfte vergeblich um das Leben Paulines kämpften, habe diese nahezu kein Unterhautfettgewebe mehr am Körper gehabt, eine Muskulatur sei kaum noch zu erkennen gewesen.

Die Jugendliche aus der Nähe von Schweinfurt litt an einer Angststörung samt sozialer Phobie: Das Haus wollte sie nicht mehr verlassen, hatte große Angst vor dem Krankenhaus, davor, von ihren Eltern getrennt zu werden. Auf Instagram veröffentlichte sie Häkelanleitungen, Kontakt zu Freunden aber hatte sie kaum noch, lebte zunehmend zurückgezogen. Hinzu kamen am Ende zwei Infekte: zunächst Corona, dann noch eine Magen-Darm-Erkrankung. Eine Mixtur, die toxisch gewesen sei, sagt der Staatsanwalt.

„Quälen“ wolle er die beiden Angeklagten nicht. Es sei aber seine Aufgabe, den Fall im Plädoyer darzustellen. Er wisse, wie „heimtückisch“ sich eine Essstörung auswirken könne. Irgendwann indes hätten die Eltern reagieren, hätten die naheliegenden Themen ansprechen müssen. „Klar ist man nachher immer schlauer, das weiß ich“, sagt Küstner – trotzdem hätte man im Elternhaus über mögliche Maßnahmen reden müssen, ohne die Angststörung der Tochter „noch einmal zu triggern“.

Paulines „Körper war in einem Notbetrieb“, ist er überzeugt. Und natürlich habe ein 16 Jahre altes Mädchen einen eigenen Willen. Aber es sei eben auch offenkundig gewesen, dass dieser – ihrer psychischen Verfassung wegen – sehr eingeschränkt gewesen sei. Das Mädchen hatte Angst, das stehe außer Frage. Handeln aber, dieser Jugendlichen helfen, das hätte man müssen. Zumal sich die 16-Jährige am Ende nicht mehr habe bewegen können, der Schwächung wegen, und im Bett der Eltern übernachtete. „Allen gerecht zu werden“, hätten die beiden Eltern vermutlich versucht. Das Ergebnis war furchtbar.

Die Angeklagten waren liebevolle Eltern

„Sie hatte nur noch Haut und Knochen“, sagt der Oberstaatsanwalt. Selbst wenn die Eltern, offenbar gestützt durch einen festen religiösen Glauben, die Hoffnung hegten, alles werde wieder gut. Sie hätten nicht davon ausgehen können und dürfen, dass sich alles ohne ihr Eingreifen zum Guten wendet. Für den Staatsanwalt ist das ein versuchter Totschlag. Ein versuchter deshalb, weil nicht eindeutig zu belegen sei, inwiefern aktives Handeln den Tod des Mädchens noch hätte verhindern können. Eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung hält er für angemessen.

Norman Jacob junior, der Strafverteidiger des Vaters, beginnt sein Plädoyer mit einer persönlichen Bemerkung: „Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als meine Kinder zu verlieren.“ Die Angeklagten seien fürsorgliche Eltern. Auf Urlaube hätten sie verzichtet, um ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Zwar seien in dieser Familie auch mal Globuli verabreicht worden. Aber eben auch klassische Arznei. Genauso falsch wäre es, sagt Jacob, würde man ein Bild von „Corona-Leugnern“ zeichnen – auch wenn das Mädchen nicht geimpft war.

Sein Mandant habe Verantwortung für den Tod der Tochter übernommen. Bedenke man, wie schwer einem Vater das fallen müsse, könne er nur den Hut ziehen davor: „brutal hart“ müsse das sein. Ein Kind zu verlieren, damit für immer leben zu müssen, dann noch eine Anklage zugestellt zu bekommen, das alles sei: „Strafe genug“. Die beiden Angeklagten seien liebevolle Eltern, darüber könne es nach den vor Gericht verlesenen Chatverläufen keine Frage geben, ergänzt Jacobs Kollegin Christine Martin. Beide plädieren, von einer Strafe abzusehen. Die Eltern, beide berufstätig, hätten die dramatische Situation, die Mangelernährung ihrer Tochter und die zusätzlich schwächenden Infekte, „schlicht unterschätzt“.

Der Strafverteidiger der Mutter, Norman Jacob senior, schließt sich dem an. Ein phobisches Verhalten mit zwanghaften Zügen, dazu die Essstörung, in der Dimension sei so etwas viel schwerer zu erkennen als gemeinhin gedacht. „Es wird schon alles gut werden“, davon sei die 48-Jährige überzeugt gewesen. Pauline habe „öfter mal Magen-Darm“ gehabt, dann sei es bergab gegangen, und anschließend wieder bergauf, ergänzt seine Kollegin Kerstin Rieger.

Der angeklagte Vater verfolgt all dies regungslos, danach erhebt er noch einmal das Wort. „Ich leide jeden Tag an der Schuld, die ich auf mich geladen habe“, sagt der 51-Jährige. Ihm bleibe die Hoffnung, dass es seiner Tochter dort, wo sie jetzt sei, gut gehe. Seine Stimme bricht.

Die Kammer sieht von einer Strafe ab

Unter Tränen erklärt seine Ehefrau, sie habe die Situation falsch eingeschätzt: „Ich wollte das nicht.“ Sie wünschte, sie könne die Zeit zurückdrehen. „Ich vermisse Pauline unendlich.“ Eines will sie noch loswerden, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückzieht: „Die schlimmste Strafe haben wir schon: Unsere Pauline ist nicht mehr da.“ Sie könne sie nicht mehr in den Arm nehmen.

Die Vorsitzende Richterin Claudia Guba sagt, die Eltern hätten gewusst, wie dünn ihre immer schon zierliche Tochter inzwischen war: 19 Kilogramm. Sie wussten auch, dass sie in ihren letzten Tagen Windeln tragen musste, weil sie es nicht mehr auf die Toilette geschafft hätte. Aber: „Sie haben nichts gemacht.“ Die Strafkammer spricht beide der fahrlässigen Tötung schuldig. Sieht aber in beiden Fällen von einer Strafe ab.

Die Eltern hätten erkennen müssen, dass sich ihre Tochter Pauline – über viele Monate vom Schulunterricht befreit – in einem lebensbedrohlichen Zustand befunden habe. Zwar hätten sie sich um sie gesorgt, sich in Chats ausgetauscht, um Tee und anderes für die Tochter gekümmert, all das. Aber es sei „völlig unverständlich“, dass man nicht zumindest einen Arzt gerufen habe, wenn die Tochter schon in keine Klinik wollte: „Sie haben die Augen zugemacht, statt zu handeln.“ Eine zusätzliche Strafe aber? Sei nach Überzeugung des Gerichts nicht notwendig. Die Angeklagten seien „schon genug gestraft“. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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