Pfarrer Max Bauer spricht von einem Wunder. "Es wurden so viele Häuser zerstört, aber es gab keine Toten und kaum Verletzte. Das ist das eigentliche Wunder." Am 13. Mai 2015, kurz vor 22.30 Uhr, raste ein Tornado durch die schwäbischen Orte Langweid und Affing. Er drückte Häuserwände ein, deckte Dächer ab, knickte ganze Wälder um.
Eine Naturkatastrophe, die es so in Bayern zuvor nie gegeben hat. Der Gesamtschaden wird auf 18 bis 80 Millionen Euro geschätzt. Heute, zwölf Monate später, wirkt Affing wieder wie ein schmuckes, aufgeräumtes Dorf. Der Eindruck täuscht. Hinter vielen der frisch gestrichenen Fassaden herrscht immer noch große Unordnung. Pfarrer Bauer drückt es so aus: "Die Seelen sind beschädigt."
Es war der Abend vor dem Vatertag. Der Tornado riss viele Menschen aus dem Schlaf. Als einige die Augen öffneten, lagen sie buchstäblich unter freiem Himmel. Der Pfarrer berichtet von einer erwachsenen Frau, die seit einer Woche in der Arbeit auf einmal "losheult" - ohne äußeren Grund. Bauer ahnt die Ursache: "Die Erinnerungen kommen hoch." Die Frau ist kein Einzelfall. Weil der Jahrestag naht, hat die Gemeinde Affing auf ihrer Internetseite mehrere Telefonnummern von Seelsorgern veröffentlicht. "Die Leute suchen das Gespräch", sagt der 33-jährige Pfarrer.
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Sieben Verletzte, mehr als 170 beschädigte Häuser: Innerhalb weniger Minuten hat ein heftiger Sturm in der Region Augsburg große Schäden angerichtet.
In dem schmucken Neubaugebiet am Ortsrand sitzt Vincenzo Sarcone an seinem Holz-Esstisch. "Uns geht es gut", sagt er, "wir waren gut versichert." 300 000 Euro hat der Wiederaufbau gekostet, Obergeschoss und Dachboden mussten neu hochgezogen werden. Der 31-Jährige arbeitet für eine Modefirma, die Einrichtung ist cool gestylt. Alles wieder paletti? "Nach außen hin ist alles schön", sagt Sarcone, "aber es gibt tiefe Wunden."
Vor allem seinem sechsjährigen Sohn Elia macht der Tornado bis heute zu schaffen. "Er hat schwer zu knabbern", erzählt Sarcone. Vor Kurzem sei er nur kurz aus dem Haus gegangen, um Holz zu holen. Elia, plötzlich alleine, bekam im Wohnzimmer eine Panik- und Schrei-Attacke. Verlustängste. Neulich saß Elia auf dem Sofa vor dem Fernseher und rief plötzlich: "Ich habe Angst, das ist wie beim Tornado."
"Diese Nacht wird uns ein Leben lang begleiten"
Als der Sturm kam, hatten Elia und sein Vater auch ein Fußballspiel angesehen. Dass der Tornado damals den Dachstuhl aufriss und die Matratze von Elias' Bett mit sich nahm, hat der Vater seinem Sohn noch gar nicht erzählt. Sarcone berichtet von einem 13-jährigen Nachbarsbuben. Er kann bis heute nur einschlafen, wenn die Mutter mit ihm im Bett liegt. "Diese Nacht wird viele von uns ein Leben lang begleiten", sagt Sarcone.
Seine Straße heißt nicht ohne Grund "Auf der Höh". Hier wurden praktisch alle Häuser abgedeckt, Carports verschwanden spurlos, Autos standen oder lagen in der Wiese. 50 Meter vom Parkplatz entfernt. Heute stehen auf einem wiederhergestellten Hausgiebel zwei Jahreszahlen: "2010/2015". Hier oben haben die Häuser quasi zwei Baujahre. Ein paar Straßen weiter steht auf einem Wohnmobil in altdeutscher Schrift: "Tornado 2015". Auch eine Art der Verarbeitung.
Die Gemeinde Affing tut sich mit der Aufarbeitung des Unwetters ebenfalls schwer. Fast 760 000 Euro kamen auf dem Spendenkonto zusammen. Bislang sind davon aber erst 79 000 ausbezahlt. Einige Bürger ärgert das sehr. "Ich selbst brauche die Hilfe nicht", betont Vincenzo Sarcone, "aber viele andere Betroffene schon, und es kann nicht sein, dass die nach einem Jahr immer noch warten müssen."
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Abgedeckte Dächer und umhergewirbelte Autos: Diese Bilder kennt man vor allem aus den USA. Doch nun haben Tornados auch in Norddeutschland und Schwaben große Schäden angerichtet. Ist das Zufall? Und wie stark sind die Wirbelstürme hierzulande wirklich?
Wie er denken viele Affinger. Bürgermeister Markus Winklhofer wirbt um Verständnis. "Wir wollen und müssen das Geld schon gerecht verteilen", sagt er. Das sei er den Spendern schuldig. Ein Unternehmen habe 50 000 Euro gegeben, einige Buben hätten in ihrer Nachbarschaft 86 Euro zusammengekratzt. Deshalb werde jeder Antrag gründlich geprüft. "Ohne Bürokratie geht es nicht", sagt Winklhofer, "ich hoffe, wir schaffen die Auszahlung noch in diesem Quartal." Schneller ging es mit der sogenannten "Soforthilfe" des Freistaates: Hier wurden 673 000 Euro ausbezahlt - ohne großes Warten.
Es gibt auch Lob für die Behörden. Der Landkreis Aichach-Friedberg und die Gemeinde haben beim großen Aufräumen unbürokratisch geholfen. Container und Bagger bereitgestellt, die Entsorgungsgebühren für den Schutt übernommen. Der Kommune hat das 160 000 Euro gekostet, der Kreis hat bislang etwa 700 000 ausgegeben. "Es gibt viel Unmut", sagt der Affinger Nebenerwerbsbauer Manfred Haas, "aber bei aller Not muss man auch dankbar für die bisherige Unterstützung sein."
Pfarrer Bauer steht vor der Salzberg- Kapelle, deren Dach der Tornado komplett abgerissen hatte. Der Kiefernwald um sie herum war restlos umgelegt. Nur die Marienfigur auf ihrem Podest blieb stehen. Einziger Schaden: Ein abgebrochener Zeigefinger. Ein Wunder? "Die Figur ist das Zeichen für fast alles, was geschehen ist", sagt Bauer.
Auch die Menschen seien weitgehend unverletzt geblieben - aber wer genauer hinsieht, findet einen kleinen, bleibenden Schaden. Der Hügel wurde im Sommer von Realschülern wieder aufgeforstet. Überhaupt hätten die Menschen einander sehr geholfen, sie seien näher zusammengerückt. "Die Solidarität hat vielen geholfen", sagt der Pfarrer.
Die Kapelle hat wieder ein Dach, ist aber noch eingerüstet. "Vielleicht eröffnen wir sie zum zweiten Jahrestag", sagt der Pfarrer. Ob bis dahin die seelischen Wunden verheilt sind? "Immerhin spricht Elia inzwischen von alleine über den Tornado", sagt Vater Sarcone. Aber die Sturm-Saison stehe ja noch bevor. "Wir wissen noch nicht, was uns erwartet."