Am Anfang, da hat sie ihm noch Kaffee gemacht. Jeden Morgen, wenn er vor der Arbeit kurz vorbeikam, um den gemeinsamen Sohn zu sehen. Dann saßen sie zusammen am Tisch, so wie früher. Noch vor der Geburt des gemeinsamen Kindes hatte sich Christine Doering aus Garmisch, heute 33, von ihrem damaligen Freund getrennt. "Es war keine harmonische Beziehung", sagt sie heute. Alkohol, Lügen, irgendwann wurde es ihr zu viel.
Der gemeinsame Kaffee morgens, er war das letzte bisschen Normalität, das die beiden nach der Trennung miteinander hatten. Bis es irgendwann auch nicht mehr um das Kind ging, sondern um Vorwürfe. Sie habe längst einen anderen, diese Unterstellung kam immer wieder, erzählt sie. Der Ton sei mit jedem Tag schärfer geworden. Und es blieb nicht bei den kurzen Besuchen am Morgen. Irgendwann kamen E-Mails dazu, Kurzmitteilungen auf dem Handy, nächtliche Anrufe. Christine Doerings früherer Freund wurde zum Stalker. Und sie zum Opfer.
Die Frau wird zur Gefangenen in ihrem eigenen Leben. Immer wieder sei ihr Exfreund mit dem Wagen vor ihrer Haustür auf und ab gefahren, mit offenen Fenstern und voll aufgedrehter Musikanlage. Immer wieder sei er ihr gefolgt und habe sich in Geschäften drohend am Ausgang postiert. Immer wieder hatte sie ihren Exfreund angezeigt, insgesamt drei einstweilige Anordnungen erwirkt, wonach er sich ihr nicht mehr nähern darf. Er hat sie alle ignoriert.
Das ihm auferlegte Zwangsgeld sei so niedrig gewesen, sagt Doering, dass er es einfach bezahlt und dann weitergemacht habe. Immerhin habe das Amtsgericht Garmisch ihren Exfreund im Juli 2012 doch noch verurteilt. Zu elf Monaten Haft auf Bewährung, wegen Nachstellung, wie Stalking im Strafgesetzbuch genannt wird. Seit 2007 gibt es dort - maßgeblich auf bayerische Initiative - einen eigenen Paragrafen, den 238er, der die Opfer besser schützen soll. Aber tut er das auch?
Die Staatsregierung hat jetzt auf Anfrage der Grünen-Abgeordneten Claudia Stamm konkrete Zahlen vorgelegt. Drucksache 16/17529, ein ernüchternder Bericht.
Die bayerische Polizei hatte im Jahr 2012 in 1800 Fällen wegen Stalkings Ermittlungen eingeleitet. Davon wurde in nur 70 Fällen von der zuständigen Staatsanwaltschaft Anklage wegen Nachstellung erhoben. In 45 Fällen kam es deshalb auch zu einer Verurteilung durch das zuständige Gericht. Kurz nach Einführung des Stalking-Paragrafen waren es mal mehr, 2008 weist die Statistik 79 Verurteilungen aus, 2009 sogar 93. Seither gehen die Zahlen zurück.
Muss erst Blut fließen?
Die Stalking-Statistik verrät aber nicht alles: Es werden nur diejenigen Fälle erfasst, bei denen ein Stalker auch tatsächlich wegen Nachstellung angeklagt oder verurteilt wird. Vielfach lauten die Anklagen je nach Fall aber auch auf Beleidigung, Nötigung oder Hausfriedensbruch - je nachdem, wo sich der Staatsanwalt die größten Erfolgschancen ausrechnet.
In der Statistik tauchen diese Fälle zwar auf, allerdings nicht im Zusammenhang mit Stalking. Wird ein Stalker darüber hinaus wegen mehrerer Einzeldelikte angeklagt oder verurteilt, wird der Fall in der Statistik nur einer Straftat zugerechnet, nämlich derjenigen, die mit der höchsten Strafe bewehrt ist. Selbst eine Verurteilung wegen Nachstellung wird dann nicht in der entsprechenden Statistik geführt, wenn der Täter gleichzeitig etwa wegen Freiheitsberaubung schuldig gesprochen wird. Andererseits heißt das - allein wegen Stalkings, was die Betroffenen schon als schlimm genug empfinden, kommt es selten zu Verurteilungen. Muss erst Blut fließen?
Doerings Martyrium dauerte zweieinhalb Jahre
"Die Justiz lässt die Opfer hängen", sagt Christine Doering. "Sie müssen weit mehr ertragen, als nötig wäre." Insgesamt zweieinhalb Jahre dauerte ihr Martyrium. Das von Gerichten verhängte Zwangsgeld sei oft viel zu niedrig, kritisiert Christine Doering. Sie hat selbst erlebt, dass das dann kaum etwas bringt.
Vor der Verhandlung in Garmisch hatte Christine Doering darum gebeten, ihrem Exfreund nicht länger als unbedingt nötig begegnen zu müssen. "Die Aussage vor Gericht ist schon schlimm genug", fand sie. Aber selbst hier ließen die Behörden die nötige Sensibilität vermissen. "Sie haben mich vom Wartebereich in ein separates Zimmer geführt, wo ausgerechnet er drin saß. Das war einfach nur furchtbar."
Justizministerin Beate Merk (CSU) kennt die Probleme. Auch sie ist nicht zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen. "Wir müssen den strafrechtlichen Schutz von Stalking-Opfern noch weiter verbessern", sagt sie. "Das derzeitige Recht krankt daran, dass wir die Täter laufen lassen müssen, wenn die Opfer 'nur' unter psychischen Belastungen leiden, und seien sie auch noch so stark."
Wer Stärke zeigt, wird nicht geschützt
Der Knackpunkt: Stalking ist ein sogenanntes Erfolgsdelikt, das Gesetz greift also erst, wenn Opfer schwerwiegend in ihrer Lebensgestaltung beeinträchtigt werden, etwa das Handy wechseln, den Job oder die Wohnung aufgeben oder bestimmte Orte meiden müssten. Dann erst würde der Staatsanwalt eingreifen können. "Im Ergebnis wird also das Opfer, das Stärke zeigt, sich nicht unterkriegen lässt und im Stillen leidet, häufig nicht geschützt. Das müssen wir ändern", sagt Merk. Sie verspricht, sich dafür einzusetzen. Wenn beharrliches Nachstellen das Leben zur Hölle macht, müsse das vor Gericht genügen. Auch für die Grünen-Politikerin Claudia Stamm steht fest: "Wichtig ist jetzt, dass den Opfern geholfen wird."
Opferverbände kritisieren, dass Ermittler die Frauen nicht ernst genug nehmen und zu leicht aufgeben. "Zwischen 90 und 95 Prozent aller Verfahren wegen reinen Stalkings werden eingestellt", schätzt Ingrid Beck, die Vorsitzende vom Verein "Gemeinsam gegen Stalking" aus Mainleus in Oberfranken. Bundesweit geht sie von einer Dunkelziffer von 600.000 bis 800.000 Fällen aus.
Erika Schindecker von der Deutschen Stalking-Opferhilfe mit Sitz in München sieht das ähnlich. "Ich habe den Eindruck, dass viele Staatsanwälte nicht verstehen, was mit den Frauen passiert." Sie zieht eine bittere Bilanz: Wirklich helfen würde der Stalking-Paragraf den Opfern nicht. "Er bringt den Frauen nicht viel."
Beide Frauen klagen über fehlende Unterstützung für ihre Hilfsangebote für die Betroffenen. Beide Vereine stehen vor dem Aus, weil die Arbeit ehrenamtlich nicht mehr zu leisten ist. "Institutionen wie unsere bekommen weder Förderung noch Unterstützung", beschwert sich Ingrid Beck. Über ihre Telefon-Hotline hat sie bislang weit mehr als 200 Stalking-Opfer betreut. Ihr Verein befindet sich mittlerweile in Auflösung. So kann es bald dazu kommen, dass sich die Opfer nicht nur von Gerichten allein gelassen fühlen, sondern von allen.