In der letzten Reihe im Klassenzimmer nehmen Markus Söder und Anna Stolz Platz, da sitzen sonst wohl die Rabauken, dahinter nur noch Musikinstrumente. Und tatsächlich schwätzen der bayerische Ministerpräsident (CSU) und die FW-Kultusministerin noch, als die Lehrerin vorne beginnt. Nicht als Störenfriede, sondern als Zuschauer sind die beiden am Donnerstagmorgen in die 11c am Wittelsbacher-Gymnasium in München gekommen. Dort wird ein „Prototyp“ der Verfassungsviertelstunde abgehalten, die CSU und Freie Wähler in den Koalitionsvertrag geschrieben haben – und die vom kommenden Schuljahr an sukzessive an Bayerns Schulen etabliert werden soll. Das Format findet an diesem Morgen quasi erstmals statt. Und soll dazu beitragen, dass man sich unter der bislang schwammig formulierten Idee mehr vorstellen kann.
„Wichser, Missgeburten, Hurensöhne“. In einem Video zeigt die Lehrerin Fußballer des FC Bayern München, die Hasskommentare gegen das Team aus dem Netz vorlesen, Beleidigungen und auch Rassismus. Und die Lehrerin wirft Artikel 5 Grundgesetz an die Wand, die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen. Anders als vor 75 Jahren bei der Entstehung des Grundgesetzes lebe man „in einer digitalisierten Welt“ mit neuen Herausforderungen. Was bedeutet das für euch? Darüber diskutieren die Jugendlichen. Krass, dass auch Profifußballer damit zu kämpfen haben, meint ein Schüler. Alles sagen zu können, was man will, aber ohne jemanden zu verletzen, dabei die Menschenwürde zu achten – darauf können sich am Ende alle irgendwie einigen. Knapp 20 Minuten wird diese Verfassungsviertelstunde dauern.
Die Idee stammt vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Geschäftsführer Rudolf Neumaier hatte im Herbst 2023 vorgeschlagen, statt des täglichen Gebets lieber über die Verfassung zu sprechen. Die Kirche verliere an Bedeutung, weshalb es säkulare Konzepte brauche, um den Menschen die grundlegenden Vorgaben für ein friedliches Zusammenleben in Freiheit zu vermitteln. Nach dem Grummeln der Kirchen und dem Hinweis, dass an staatlichen Schulen nicht gebetet wird, verschwand das Thema – bis es sich im Koalitionsvertrag niederschlug.
Nun präsentierten Söder und Stolz Fakten – nachdem Stolz’ Amtschef das Konzept auch bei den Heimatpflegern vorgetragen hatte. Sie waren laut Mitteilung durchaus zufrieden.
Den Anfang machen an den Grund- und Förderschulen die 2. und 4. Klassen, an allen weiterführenden Schulen sind es die 6. und 8. Klassen. An Gymnasien sowie Fachoberschulen kommen die 11. Jahrgangsstufe und an zweistufigen Wirtschaftsschulen die Zehntklässler noch dazu. An Fach- und Berufsoberschulen wird auch in den Vorklassen die Viertelstunde abgehalten. In Berufsschulen sind alle Jahrgänge einbezogen. Nach sechs Monaten wird evaluiert, 2025 sollen weitere Jahrgänge folgen.
Am Wittelsbacher-Gymnasium wird nun mit den Politikern diskutiert. Die Leute wüssten oft nicht, was sie anderen antun im Internet, sagt ein Schüler, schnell, ohne Klarnamen, da gebe es keine Strafen. Söder wirft ein, so sei das nicht, heutzutage stehe auch schnell der Staatsanwalt auf der Matte. Es gehe insgesamt darum, sich „eine eigene Beurteilungskompetenz zu erarbeiten“, findet der Ministerpräsident. Sonst „bleiben nur Reels“ in sozialen Netzwerken, von denen man sich gleichgültig und inaktiv „berieseln“ lasse. Doch jene, die Freiheit und Demokratie nicht wollen, seien „nicht faul, die sind megaaktiv“.
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Mehr als 200 000 Schülerinnen und Schüler in mehr als 7000 Klassen sollen so erste eigene Erfahrungen mit demokratischen Wahlprozessen sammeln, heißt es aus dem Kultusministerium.
„Keine Noten, keine Ex, frei diskutieren.“
Kultusministerin Stolz betont, man wolle mit dem Konzept die Jugendlichen in ihrer „Lebenswelt abholen“ und „Themen finden, die euch tagtäglich berühren“. Und wichtig: „Keine Noten, keine Ex, frei diskutieren.“ Idealerweise entstehe ein Impuls für Gespräche daheim. Das Ministerium unterstützt mit Materialien, aber am besten kämen Ideen aus den Klassen. Der Landesschülerrat war beim Grundkonzept involviert, dessen Sprecher Heinrich Ritter aus Haßfurt in Unterfranken ist am Donnerstag nach München gekommen. Schon lange fordere man mehr politische Bildung an Schulen, sagt er, lobt das Projekt wegen der alltagsrelevanten Themen. Söder meint dazu noch später: „Wenn man begonnen hätte mit Cicero, wär’s bissl zäh geworden.“
Bei der Ausgestaltung kommt es also auf die Lehrkraft an, und die sollte wissen, wie sie ihre Klasse begeistern kann. Jedes Fach soll mal 15 Minuten abgeben, die Viertelstunde fällt nicht nur dem Politikunterricht zu.
Auch wenn mehr politische Bildung gut ankommt bei den Lehrerverbänden, fordern sie Freiheit. Inhaltlich ohnehin, aber auch zeitlich. „Eine Schulstunde dauert drei Viertelstunden“, sagte Philologenchef Michael Schwägerl, in dieser Zeit könnte wirkungsvoller über die Verfassung diskutiert werden. Kinder zu Demokraten zu erziehen, klappe nicht, „indem man streng nach Stundenplan kleine Häppchen serviert“, kritisierte auch Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands. Demokratie müsse gelebt werden, und wenn sich drängende Fragen stellen, müssten sie sofort diskutiert werden. Nicht erst im verordneten Zeitfenster.
Gewisse Freiheit gewährt das Kultusministerium: Die Schulen sollen das Konzept gestalten – sofern es beim wöchentlichen Gespräch bleibt. „Diese Regelmäßigkeit ist wichtig, wenn Schulen mehr machen wollen als die Viertelstunde, dann können sie das“, sagte ein Ministeriumssprecher. Mehrere Viertelstunden nacheinander aber nur alle paar Wochen, sind nicht erlaubt.