Süddeutsche Zeitung

Schule:Alles verpufft

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Schüler für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern, ist seit Jahren erklärtes Ziel der Bildungspolitik. Doch das nützt nichts. Abiturienten haben keine Ahnung mehr von Chemie und Physik, klagen die Lehrer und fordern vom Ministerium eine Reform der Oberstufe

Von Anna Günther, München

Mint-Förderung gehört mittlerweile zum Standard-Repertoire der Bildungspolitik. Jugend forscht ist längst nicht mehr allein in den Schulen unterwegs - diverse Wettbewerbe suchen die cleversten Nachwuchsforscher in Mathematik, Informatik, den Naturwissenschaften oder Technik. Firmen und Universitäten veranstalten Schnuppertage für Mädchen und zuweilen auch für Buben. Deutschland will Dichter- und Ingenieurland sein. Doch diese Bemühungen könnten ins Leere laufen: Abiturienten haben kaum noch Ahnung von Chemie und Physik, schuld sei das System, sagen die Chemielehrer an den bayerischen Gymnasien. Sie schlagen Alarm, sehen ihr Fach in Gefahr und auch die Naturwissenschaften an sich.

"Die Mint-Förderung wird wirkungslos verpuffen, wenn die Naturwissenschaften in der Schule zu Orchideenfächern werden", sagt Markus Kiechle, Vorstandsmitglied des Verbandes der Chemielehrer Bayerischer Gymnasien (VCBG). Sogar das Abitur im naturwissenschaftlichen Zweig sei mit bis zu zwei Fremdsprachen eigentlich ein sprachliches, das könne nicht sein. Die Einführung des G 8 vor elf Jahren führte aus Sicht des Verbandes zum Bedeutungsverlust der Naturwissenschaften. Dabei stand Bayern beim Themenbereich naturwissenschaftliche Kompetenz beim Pisa-Test 2002 auf Rang vier aller OECD-Länder. Mit der Reform des Gymnasiums habe sich diese Mint-Kompetenz deutlich verschlechtert, sagt Kiechle.

Deutsch und Mathe sind schriftlich im Abitur Pflicht, außerdem müssen die Schüler eine Fremdsprache nehmen. Wählen können sie zwischen einem gesellschaftswissenschaftlichen Fach wie Geschichte und im fünften Bereich aus den Naturwissenschaften, einer weiteren Fremdsprache, Kunst oder Musik. Eines der drei wird schriftlich, zwei andere mündlich geprüft. Dass die Mint-Fächer in dieser Gruppe bei vielen Schülern nicht besonders beliebt sind, erstaunt kaum. Aber letztlich entscheiden die Jugendlichen selbst, worin sie sich prüfen lassen.

Selbst bei der reinen Belegung in der Qualifikationsphase nehmen immer weniger Chemie oder Physik, diese Zahl sei enorm zurückgegangen, sagt Kiechle. 2011, als der erste G-8-Jahrgang Abitur machte, waren es 57 Prozent der Schüler. Heuer belegten noch 35 Prozent Chemie in der Q-11 und Q-12. Dramatischer sei es bei den Abiturprüfungen: 80 Prozent weniger Jugendliche als 2011 ließen sich in Chemie schriftlich für die Hochschulreife prüfen. Ähnlich ist es in Physik und Biologie. Die Zahl derjenigen, die Naturwissenschaften schriftlich im Abitur belegen, sank binnen vier Jahren um 82 Prozent. 2015 war es knapp jeder zehnte Schüler.

Diese Entwicklung hat für den Chemielehrerverband schon jetzt fatale Folgen: Er führt auch die steigende Zahl der Studienabbrecher darauf zurück. Die Schüler seien überfordert, weil sie mit zu geringem Mint-Wissen an die Unis kommen. Immer mehr Hochschulen müssten mit Vorkursen die angehenden Studenten erst einmal aufs Studium vorbereiten oder senkten gleich die Anforderungen der Einstiegsklausuren, um die Quote stabil zu halten. "Aber sie trauen sich nicht, das öffentlich zuzugeben", sagt Kiechle. Auch die TU München bietet Vorkurse in Mathe, Physik und Informatik an. Vielen Schülern fehle schon in der 11. Klasse die Bereitschaft, sich mit Chemie auseinanderzusetzen.

In einem Brief an Kultusminister Ludwig Spaenle, dessen Staatssekretäre und die Opposition fordert der Chemielehrerverband nun eine Reform der Oberstufe. Fremdsprachen und Naturwissenschaften sollen gleich viel Gewicht bekommen. Der Zweig und damit auch das dritte Abiturfach sollen in der 10. Klasse noch einmal gewählt werden. Je nach Profil wäre dann zum Beispiel eine Naturwissenschaft, eine Sprache oder Kunst Pflicht im Abitur. Im Mint-Zweig müssten zudem zwei Naturwissenschaften bis zum Abi belegt werden.

Eine Reform von Oberstufe und Prüfungsordnung müsste von der Kultusministerkonferenz abgesegnet werden - bei wichtigen Entscheidungen mit einstimmigem Votum. Entsprechend gelassen gibt man sich im Ministerium. "Wir werten das als Beitrag zum Dialog wie das bayerische Gymnasium weiterentwickelt werden könnte", sagt Sprecher Ludwig Unger. Die Verbände der Gymnasien hätten die Veränderung der Oberstufe nicht zur Priorität erklärt. Er verstehe, dass der Chemielehrerverband sein Fach stärken wolle, aber die konkrete Entscheidung über das dritte, vierte und fünfte Prüfungsfach treffen die Schüler.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2015
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