Schüler vor Gericht:"Ich bringe sie um"

Memmingen, Schule, Lindenschule, Polizei, Amokalarm

Nach dem Amokalarm an der Lindenschule in Memmingen wurde das Gebiet von der Polizei weiträumig abgesichert. Nun steht ein Schüler vor Gericht.

(Foto: dpa)

Offenbar nur knapp einer Katastrophe entgangen: In Memmingen hat der Prozess gegen einen 15-Jährigen begonnen, der seine Mitschüler mit einer Waffe bedroht hat. Zeugen sagen aus, dass er seine Ex-Freundin erschießen wollte - aber die saß nicht am gewohnten Platz in der Mensa.

Von Stefan Mayr, Memmingen

Bei dem Amok-Alarm am 22. Mai 2012 stand die Lindenschule in Memmingen viel knapper vor einer Katastrophe, als bisher bekannt war. Dies wurde am Dienstag zu Beginn des Strafprozesses gegen den 15-jährigen Schüler vor dem Landgericht Memmingen deutlich, der damals eine Waffe auf dem Schulhof gezückt hatte.

Fünf Klassenkameraden und zwei Lehrer sagten als Zeugen aus, dass der Angeklagte mit den Worten "Ich bringe sie um" damit drohte, seine Ex-Freundin und mehrere Lehrer zu töten. Nach Angaben des Gerichtssprechers Manfred Mürbe war es nur einem "Zufall" zu verdanken, dass der Angeklagte das Mädchen nicht antraf und nicht auf sie schießen konnte.

Die Anklage lautet unter anderem auf zwölffachen versuchten Totschlag. Der Prozess vor der Großen Jugendkammer findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil der Beschuldigte minderjährig ist. Zwei blaue Stellwände vor dem Sitzungssaal 132 schützten ihn vor den Kameras, die Polizei schirmte den Flur ab. Vor drei Berufsrichtern, zwei Schöffen, zwei Sachverständigen, der Staatsanwältin und einem Vertreter des Jugendamtes sagte der Jugendliche erstmals seit seiner Tat umfassend aus.

Nach der gut einstündigen Vernehmung berichtete Gerichtssprecher Manfred Mürbe den Journalisten über die Angaben des Schülers. "Der Angeklagte hat einen gefassten, aber verschlossenen Eindruck gemacht", sagte Mürbe. Eine Tötungsabsicht habe der Schüler verneint. Vielmehr habe er von einem "kompletten Blackout" gesprochen: "Er kann sich nur noch erinnern, Richtung Menschen und Fahrzeuge geschossen zu haben."

Auslöser des Ausrasters war, dass die 13-jährige Freundin des Jugendlichen am Vortag die Beziehung beendet hatte. "Der Schüler fühlte sich ungerecht behandelt", berichtete Mürbe, "der Vorwurf, er habe mit anderen Mädchen geflirtet, sei nicht richtig gewesen." Um sich "abzureagieren", habe der Jugendliche am Abend mit Erlaubnis des Vaters im Keller "mit Luftdruckwaffen geschossen". Dabei habe er in einem unbeobachteten Moment den Code des Schlüsseltresors manipuliert, sodass er später zwei scharfe Pistolen mitsamt 350 Schuss Munition sowie eine Luftdruckpistole aus dem Waffenschrank des Vaters nehmen konnte.

Pistole im Hosenbund

Mit diesen Waffen fuhr der Achtklässler am nächsten Morgen zu seiner Mittelschule. Eine Pistole hatte er im Hosenbund stecken. Sie fiel sowohl im Bus als auch im Klassenzimmer Mitschülern auf. Der Angeklagte bedrohte sie mit dem Tod, falls sie ihn verpetzten. So kam es, dass die Klassenkameraden im Unterricht stundenlang neben dem Bewaffneten saßen, ohne sich an einen Lehrer zu wenden. "Sie hatten ersichtlich Angst", sagte Sprecher Mürbe.

Am Nachmittag versetzte der Schüler dann die gesamte Stadt Memmingen stundenlang in einen Ausnahmezustand: Wie die Schüler berichteten, machte sich der Angeklagte gegen 12.30 Uhr mit gezückter Waffe und den Worten "Ich bringe sie um" auf die Suche nach seiner Ex-Freundin. "Es war Zufall, dass sie in der Mensa nicht auf ihrem gewohnten Platz saß", berichtet Gerichtssprecher Mürbe.

Laut Anklage bedrohte der damals 14-Jährige im Pausenhof mehrere Schüler und einen Lehrer mit gezogener Waffe. Dabei fiel auch ein Schuss. "Versehentlich", wie der Angeklagte vor Gericht beteuerte. Und: An Drohungen könne er sich nicht erinnern.

Was trieb den Schüler zu seiner Tat?

Danach flüchtete der Schüler auf den Fußballplatz im Stadtteil Steinheim. Als er in einem hölzernen Reservebank-Häuschen entdeckt wurde, versuchten Spezialkräfte der Polizei, ihn festzunehmen. Doch er hielt die Beamten mit Schüssen auf Distanz.

Nach Auskunft des Leitenden Oberstaatsanwalts Johann Kreuzpointner richtete er die Waffe "teilweise gezielt" in Richtung Polizisten. Diese verschanzten sich hinter Holzscheiten oder Fahrzeugen. Am Abend schossen sie ebenfalls - Warnschüsse in den Boden vor dem Jungen. Kurz nach 20 Uhr gab dieser auf. Der Tag des Amok-Alarms ging zu Ende, ohne dass ein Mensch verletzt wurde.

Anja Mack, die Anwältin des Angeklagten, spricht von einer " Ausnahmetat". Ihr Mandant sei "kein auffälliger Jugendlicher". An jenem Tag seien "mehrere Faktoren zusammengekommen", sodass bei ihm "ein Schalter umgeklappt wurde, dann hat er etwas gemacht, was er sonst nicht tun würde". Am ersten Prozesstag waren auch Mutter und Vater des Angeklagten als Zeugen geladen. Sie machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.

Das Gericht muss zwei Fragen klären: Schoss der Angeklagte in Tötungsabsicht oder nicht? Und: Was trieb den 14-Jährigen zu seiner Tat? Dem Angeklagten drohen bis zu zehn Jahre Jugendhaft, falls das Gericht schädliche Neigungen oder die Schwere der Schuld feststellt. Sollte beides verneint werden, käme er mit vierwöchigem Arrest und Arbeitsstunden davon - was jedoch als unwahrscheinlich gilt. Das Urteil fällt im Februar.

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