Schriftsteller Michael Ende:Der Beginn der unendlichen Geschichte

Schriftsteller Michael Ende: Das alte Schulhaus in Netterndorf steht inmitten eines verwunschenen Gartens.

Das alte Schulhaus in Netterndorf steht inmitten eines verwunschenen Gartens.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wo hat Michael Ende die "Unendliche Geschichte" geschrieben? Vielleicht kam ihm die Idee dazu in einem Haus in Netterndorf in Ebersberg. Der Vater des Schriftstellers lebte hier fünf Jahre in einem ausgedienten Schulhaus. Eine Spurensuche.

Von Carolin Fries, Baiern

Mit einem staubigen Wälzer in den Händen sitzt der Bub mit der Topffrisur auf dem Speicher einer Schule und lässt sich entführen in die Anderswelt Phantásien. Kaum einer, der die Anfangsszene der "Unendlichen Geschichte" nicht kennt. Sollte diese phantastische Geschichte von Michael Ende ihren Ursprung auf dem Speicher der alten Schule in Netterndorf im Bairer Winkl (Kreis Ebersberg) haben?

Hier hat Michael Endes Vater Edgar etwa fünf Jahre lang gelebt, der Sohn, damals Anfang 30, hat ihn oft besucht, bis Edgar Ende 1965 starb. Als 1979 die "Unendliche Geschichte" erschien, war den Menschen in Netterndorf klar, dass ihr Schulhaus irgendwie Geschichte geworden war.

"Das kleine Reich" steht rechts oben in schwarzen Buchstaben auf der Tür zum Speicher. Hat Michael Ende die Worte dorthin geschrieben oder war es sein Vater Edgar, ein surrealistischer Maler? Anette Körner und Heinz Günter Weber wissen es nicht. Als sie das Haus 1996 kauften, um für sich und die drei Kinder ein kleines Reich draußen im Grünen zu schaffen, da rankten sich bereits Legenden um die alte Schule mit ihren dicken Mauern, die vor 135 Jahren gebaut wurde. Damals muss auch die Linde gepflanzt worden sein, die heute dafür sorgt, dass man das Haus von der Straße aus gar nicht mehr sieht.

Schriftsteller Michael Ende: Die Wirtsleute Magdalena und Alois Gröbmeyer haben den Gästebuch-Eintrag von Michael Ende fein säuberlich aufbewahrt.

Die Wirtsleute Magdalena und Alois Gröbmeyer haben den Gästebuch-Eintrag von Michael Ende fein säuberlich aufbewahrt.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Michael Ende besuchte seinen Vater regelmäßig, "ein-, zweimal im Jahr vielleicht", sagt Alois Gröbmeyer, der alte Wirt von gegenüber. Meist brachte er seine Frau Ingeborg Hoffmann, eine Schauspielerin und Rundfunksprecherin, mit und "Alibaba", den Hund, "so eine Art Windhund", erinnert sich Magdalena Gröbmeyer. Wenn sie dann anlässlich des Hundenamens nach den 40 Räubern gefragt hat, dann soll Ingeborg Hoffmann ihr geantwortet haben "Das sind wir". "Wir haben ja immer vermutet, sie schreibt die Bücher", sagt Magdalena Gröbmeyer.

So wie die Eheleute heute mit 76 Jahren in der Wirtsstube auf der Eckbank sitzen, so saßen sie wohl auch damals zusammen. Meist mit ihrem Nachbarn Edgar, manchmal mit Michael, der auch nach dem Tod des Vaters und nach seinem Umzug 1970 nach Italien jedes Jahr zum Todestag am 27. Dezember herausgefahren kam, um das Grab in Antholing zu besuchen und natürlich die Wirtsleute Magdalena und Alois, denen er diese Zeilen ins Gästebuch schrieb: "Zwischen Rom und Netterndorf ist der Weg ganz nah; alle Jahr zur Weihnachtszeit sind wir wieder da!" Darunter seine Adresse in Rom mit Telefonnummer. "Mir sollten amoi kema", sagt Alois Gröbmeyer. Doch mit einer Landwirtschaft, der Wirtschaft, einer Metzgerei und sechs Kindern reichte die Zeit nur fürs Drandenken.

Schriftsteller Michael Ende: Den Speicher, der möglicherweise als Ausgangspunkt für die "Unendliche Geschichte" diente, haben die jetzigen Bewohner ausgebaut.

Den Speicher, der möglicherweise als Ausgangspunkt für die "Unendliche Geschichte" diente, haben die jetzigen Bewohner ausgebaut.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Uns waren immer drei Dinge wichtig: kein Hunger, keine Angst und die Dinge erklären. Nicht nur verbieten." Man kann sich gut vorstellen, dass Michael Ende sich hier wohl gefühlt hat - er, der lange unter der Trennung seiner Eltern litt und selbst keine Kinder haben sollte. Und er sah wohl auch, wie wertvoll die Wirtsleute für seinen Vater waren, der mit seiner Lebensgefährtin Lotte Schlegel in dem Schulhaus lebte. "Kein Kaffee, kein Fett", soll diese gepredigt haben, ihr Mann habe es mit dem Herzen.

Man blieb beim "Sie" - trotz Freundschaft

Doch Edgar Ende liebte Kaffee und Magdalena Gröbmeyer weiß bis heute, wie er ihn haben wollte: "schwarz wie der Teufel, heiß wie die Hölle und süß wie die Liebe". Wenn es daheim nur Fisch und Gemüse gab, dann hat er sich bei Alois Gröbmeyer später zwei Dicke geholt. Die beiden saßen oft stundenlang beim Schach zusammen und haben sich unerbittliche Schlachten geliefert. Gegen Gröbmeyer hatte Ende keine Chance, "er ist ein Logiker", sagt seine Frau. "Beim Schachspielen kann er grob sein", fügt sie hinzu, "muss man grob sein." Die Eheleute haben sich übrigens beim Schachspiel kennengelernt. Mit Edgar Ende entwickelte Gröbmeyer eine Art Freundschaft, auch wenn man immer beim "Sie" blieb.

So gut man sich in der Wirtsstube auch verstand, als Künstler blieb Edgar Ende ihnen ein Mysterium. Mehrere Tage am Stück soll er sitzend oder auf einer Chaiselongue liegend in seinem dunklen Zimmer verbracht haben, um Bilder vor seinem geistigen Auge aufsteigen zu lassen. Mit einem eigens konstruierten Bleistift, an dem er ein Licht angebracht hatte, soll er diese dann in der Dunkelheit skizziert haben. "Seine Buidl passen so gar ned zu ihm", sagt Alois Gröbmeyer und erzählt von riesigen, dunklen Gestalten, die eine Mauer bilden, oder von handtuchbehangenen Bäumen in einem Tränenmeer. "Des häng ich mir doch ned an die Wand."

Der fröhliche Kerl, der alle ansprach

Der Surrealist Edgar Ende, der auch Ausstellungen für das Haus der Kunst konzipiert hat, blieb ihnen fremd. Für sie war er der fröhliche Kerl am Gartenzaun, der alle ansprach. Einem Studienrat aus Glonn habe er einmal einen kulturell besonders wertvollen Spazierweg empfohlen, erinnert sich Magdalena Gröbmeyer. Als der Passant fragte, ob er denn überhaupt etwas von Kunst verstehe, soll er mit gespitzten Lippen erwidert haben: "ein bisschen".

Magdalena Gröbmeyer hat im Schulhaus nebenan schreiben und lesen gelernt. Zwei Klassen gab es damals für die etwa 60 Kinder, die im Winter das Brennholz von zu Hause mitbringen mussten. Acht Jahre dauerte die Schulzeit, dann wurde recht bald geheiratet. Gröbmeyer besuchte noch für zwei Jahre die Handelsschule in München. 1964 wurden die kleinen Schulen in Netterndorf und Berganger geschlossen und durch ein Schulhaus in Baiern ersetzt. Lotte Schlegel und Edgar Ende, die damals seit vielen Jahren in München in der Schellingstraße lebten, entdeckten die leer stehenden Gemäuer bei einem Ausflug aufs Land. 50 000 Mark sollen sie für die alte Schule gezahlt haben. Nach Edgar Endes Tod behielt Lotte Schlegel das Haus, vermietete einzelne Räume und bewohnte selbst nur den 77 Quadratmeter großen Schulsaal. Erst 1996 verkaufte sie es an die Familie Körner-Weber.

Die Raumausstatterin und der Dokumentarfilmer fanden auf dem Dachboden Zeichnungen von Edgar Ende in einer olivgrünen Blechdose. Vieles transportierte eines Tages der Münchner Galerist Volker Kinnius ab, manches blieb. Wie das unvollendete Bild, das im Treppenhaus auf einem Schrank steht und von Anette Körner als "liegende Frau im Meer" interpretiert wird. Im Schulsaal hängt das Plakat einer Chagall-Ausstellung, die Ende konzipiert hat. Alles vom Speicher, "vom wohl bekanntesten Speicher" , sagt Körner und weiß dann nicht weiter.

Wurde die "unendliche Geschichte" tatsächlich hier geboren?

Von Netterndorf, Baiern - oder gar dem ganzen Landkreis? Als sie ihn das erste Mal betrat, war da kein Tageslicht, dafür hausten dort Siebenschläfer. Körner und Weber haben das "kleine Reich" ausgebaut. Seither lebten ausschließlich Künstler hier. Zuerst eine junge Frau, die Tarotkarten malte, später ein Kunstschmied und aktuell ein Fotograf. Zwischendurch wohnte hier die Tochter, die "im Moment noch keine Künstlerin ist, aber eine wird", wie ihre Mutter mit Überzeugung sagt. Wurde die "unendliche Geschichte" tatsächlich hier geboren?

Und wie geht sie weiter, hier in Netterndorf? Körner und Weber wollen das Haus verkaufen. "Ein Haus mit Geschichte", wie die zuständige Immobilienmaklerin betont. Die Verhandlungsbasis liegt bei knapp 800 000 Euro. "Es muss schon noch renoviert werden", sagt die Maklerin. Anette Körner sagt, "wir haben es nicht zu Tode sanieren wollen". Sie wünscht sich jemanden, der ebenfalls behutsam und mit Fingerspitzengefühl saniert. Oder - "extrem geil" - ein Ende-Museum einrichtet. Baierns Bürgermeister Josef Zistl winkt ab. Die Preisvorstellungen seien unrealistisch, man habe keinen Bedarf. "Wir sind doch keine Immobilienverwaltung."

Die Gröbmeyers sehen dieser Tage immer wieder Autos gegenüber parken. "Tu was Du willst" lautet die Zauberformel auf der Rückseite des Medaillons, das der Bub mit der Topffrisur, Bastian Balthasar Bux, von der Kindlichen Kaiserin bekommt - und das ihm in der "Unendlichen Geschichte" große Macht gibt. Sollen sie doch alle machen, was sie wollen. Die Gröbmeyers warten einfach ab, was wird.

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