Schliersee:Anstrengen für die Erinnerung

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Die Weinbergkapelle war oft Schauplatz von Aufmärschen von Rechtsextremisten und irregeleiteten Traditionsverliebten. (Foto: Martin Siepmann/imago)

Jahrelang versammelten sich Nazis an einer umstrittenen Gedenktafel in Schliersee. Anstatt diese einfach abzuhängen, sollte die Geschichte aufgearbeitet werden - das war nicht immer einfach.

Von Matthias Köpf, Schliersee

Endlich Ruhe hätte sein sollen, so haben es sich einige in Schliersee gewünscht. In mehr als acht Jahrzehnten zuvor hatte es ja auch kaum je Aufregung gegeben über die Aufmärsche an der Weinbergkapelle. Zwar hatten die Amerikaner das dortige Denkmal gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wegen "nationalistischer Tendenzen" entfernen lassen, aber dass es seit 1956 eine neue Tafel und dann wieder jährliche Treffen von alten und neuen Nazis, rechten Burschenschaftlern und etlichen örtlichen Vereinen gab, das hatte kaum jemanden gestört.

Erst im 21. Jahrhundert regte sich angesichts von immer mehr auswärtigen Neonazis Widerstand, und dann sollte eben Ruhe sein und die Tafel verschwinden. Doch die Schlierseer haben sich "zu einem anstrengenderen Weg entschlossen", wie es Wolfgang Foit vom Kreisbildungswerk Miesbach formuliert. Am Freitag wurde der neue "Ort der Erinnerung" an der Weinbergkapelle eröffnet.

Die alte Tafel, die an das berüchtigte Freikorps Oberland und an dessen 1921 bei der sogenannten Schlacht am Annaberg im heutigen Polen gestorbene Mitglieder erinnert, ist nämlich nicht verschwunden, nur damit Ruhe ist. Sie ist immer noch da, damit sich die Menschen nun auch daran erinnern können, wie Nazis, Rechtsextreme und irregeleitete Traditionsverliebte ihrer vermeintlichen Helden gedachten.

Die Weinbergkapelle wurde immer Schauplatz von Aufmärschen von Rechtsextremisten und irregeleiteten Traditionsverliebten. (Foto: Martin Siepmann/imago)

Eine sowohl in der Marktgemeinde als auch in der katholischen Pfarrgemeinde demokratisch legitimierte Gruppe unter anderem um Wolfgang Foit vom Katholischen Kreisbildungswerk und Werner Hartl, den früheren Leiter des Jugendbildungszentrums Schliersee der Gewerkschaft IG Metall, hatte es übernommen, eine neue Form des Erinnerns zu finden - begleitet von Zeitgeschichtlern und anderen Wissenschaftlern und im steten Austausch mit den Interessierten unter den Einheimischen.

Um "Bildung und Dialog" geht es der Gruppe nach Foits Worten. Es sei da in den vergangenen Jahren viel gerungen, diskutiert, immer wieder geplant, verworfen und neu geplant worden. Gerade das habe den ganzen Prozess aber wertvoll gemacht. Es gab Vorträge, Workshops und auch eine mehrtägige Exkursion nach Góra Świętej Anny in Polen, das ehemalige St. Annaberg in Oberschlesien, also den Ort, den das Freikorps 1921 in jener blutigen Schlacht erstürmt hat.

Neue Tafeln am Denkmal erklären die umstrittene alte Inschrift. (Foto: oh)

"Wir haben zu einem kritischen Umgang mit der Geschichte gefunden"

Der neue, vom Künstler Erwin Wiegerling gestaltete "Ort des Erinnerns" soll nur eines von mehreren Ergebnissen dieser Auseinandersetzung mit der Geschichte sein. Er besteht aus einer sanft gerundeten Mauer, an der vier Metalltafeln mit erklärenden Texten die alte Gedenktafel flankieren. Die wurde aus der Südwand der Kapelle auf dem Weinberg herausgelöst. Die dem heiligen Georg geweihte Kapelle "ist jetzt wieder ganz Kirche", sagt Pfarrer Hans Sinseder, "ein sakraler Ort für alle, befreit vom politischen Ballast dieser Tafel."

Sie soll an ihrem neuen Ort durch den neuen Kontext selbst eine Art Ausstellungsstück werden und steht nun nicht mehr alleine für sich und ihre ursprüngliche Absicht. Die Texte auf den neuen Tafeln beleuchten den historischen Hintergrund von 1921 bis heute und wurden vom Münchner Institut für Zeitgeschichte zusammengestellt.

Als zweites Element des veränderten Erinnerns versuchen die Schlierseer, auch den Tag der jährlichen Gedenkfeier neu zu besetzen: 2019 fand am 21. Mai erstmals eine Maiandacht mit Friedensgedenken statt. "Wir haben zu einem kritischen Umgang mit der Geschichte gefunden", betonte Bürgermeister Franz Schnitzenbaumer nun zur coronabedingt um zwei Monate verspäteten Eröffnung. "Wir laden Einheimische und Gäste ein, sich am Ort der Erinnerung zu informieren."

Das ist seit Freitag möglich, doch zwei Elemente des Konzepts stehen noch aus. Die Gruppe will zu dem ganzen Thema noch ein pädagogisches Programm etwa für Schulklassen und andere Besuchergruppen entwickeln und ihre Erkenntnisse irgendwann in die Form einer wissenschaftlichen Publikation gießen.

© SZ vom 17.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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