Sanfter Tourismus:Dorfschönheit

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Ramsau im Berchtesgadener Land sucht seinen eigenen Weg im Tourismus. Statt auf Schneekanonen und Spektakel setzt der Ort auf die Ruhe der Natur, auf Wanderungen und Bergtouren. Doch trägt das für die Zukunft?

Von Heiner Effern, Ramsau

Sie legt ihren Kopf an seine Schulter, er den Arm um ihren Rücken. Ihre Blicke sind nach vorne gerichtet, konzentriert verfolgen die beiden das Schauspiel, in dem sich nichts bewegt. Jetzt nicht, und seit Millionen Jahren nicht. Minutenlang sitzt das Paar wie ein Scherenschnitt auf der Bank in 1200 Metern Höhe und schaut Bergkino. Links der Watzmann mit seinen schroffen Wänden, rechts der Hochkalter mit dem Blaueisgletscher, in der Mitte der Große Hundstod. Kein Ton ist zu hören, nur unten an der Hütte platschen die Tautropfen vom Dach. "So massiv, so gewaltig", sagt er. Sie nickt. Dann wieder Stille.

Unten im Tal sitzt Herbert Gschoßmann in der Gaststube des Hotels Rehlegg am Ecktisch unter dem Kruzifix. Das einsame Paar auf der Mordaualm meint er, wenn er sagt: "Man kann hier etwas erleben, ohne Event." Gschoßmann beobachtet seit Jahren, wie sich viele Alpenorte in Arenen verwandeln. Immer mehr Schneekanonen stehen an den Skipisten, immer mehr Oktoberfest-ähnliche Fahrgeschäfte wie der Flying Fox werden aufgestellt. "Wie krank muss eine Gesellschaft sein, dass Kinder Plastik-Dinos auf dem Berg brauchen, um bespaßt zu werden?", fragt er. Gschoßmann ist von Beruf weder Aktivist beim Bund Naturschutz noch Philosoph, er ist CSU-Bürgermeister des Dörfchens Ramsau im Berchtesgadener Land.

Der Bürgermeister verurteilt keinen Kollegen, der auf Halligalli setzt. Er hält es nur für gefährlich. "Die Orte gehen einen Weg, den man mit aller Konsequenz gehen muss." Wenn die Natur ramponiert ist, gibt es kein Zurück, nur ein Noch-mehr. Gschoßmanns Weg ist ein anderer. Die Gemeinde Ramsau wird in diesem Jahr zusammen mit Hinterstein im Allgäu das erste Bergsteigerdorf in Bayern werden. Der Deutsche Alpenverein verleiht dieses offizielle Siegel nur Orten, die strenge Kriterien für einen sanften Tourismus erfüllen.

Auch Ramsau hat ein Miniskigebiet, einen Sessellift und zwei Schlepper. Auf den Pisten hat die Sonne schon länger grün-braune Flecke in den Schnee gebrannt. Skifahren kann man hier nur, wenn die Natur es zulässt. "Wenn es geht, dann geht's", sagt Gschoßmann. Also schon seit Wochen nicht mehr. Ein paar Kilometer weiter, am Götschen, liegt noch dick Kunstschnee. Es gab Überlegungen, die beiden Gebiete zu verbinden. Eine kleine Skischaukel, das würde neue Lifte bedeuten und neue Kanonen auf Pump. Der Gemeinderat von Ramsau hat das abgelehnt. Einstimmig. "Die Gäste kommen zu uns, weil die Natur schön ist", sagt Gschoßmann.

Ramsau hat zwar keinen Après-Ski-Zirkus zu bieten, dafür aber Postkartenidylle, den Blick auf den Watzmann und eine Bergsteigertradition. (Foto: Imago)

Mit am Tisch beim Bürgermeister sitzen Tourismuschef Fritz Rasp, der mit seinem Elektroauto herübergekommen ist, und Hotelier Hannes Lichtmanegger. Den Herrgottswinkel im Hotel Rehlegg und seine regelmäßigen Besucher darf man als die inoffizielle Zentrale des Projekts Bergsteigerdorf bezeichnen. Rasp sprang sofort an, als die DAV-Sektion in Berchtesgaden Informationen zu den Bergsteigerdörfern schickte. "Wir müssen diese Nische nutzen. Durch das Prädikat des DAV können wir uns hoffentlich von der Masse abheben", sagt er. Nun galt es, die Gastgeber für die Idee zu gewinnen. Da bot sich als Partner Hannes Lichtmanegger an, den sie auch im Ort mit seinem Faible für heimische Produkte, ökologische Energie und mit seiner Abscheu gegen chemische Putzmittel schon mal als Spinner abtaten. Heute ist das Vier-Sterne-Hotel das erste Haus im Dorf. Sanfter Tourismus, das taugt Lichtmanegger, und auch die anderen Gastgeber zögen weitgehend mit, sagt er. "Ich habe keinen erlebt, der gesagt hat: So ein Scheiß." Gegen die nahen Österreicher und ihre großen Skigebiete, "da können wir sowieso nicht anstinken".

Doch es war der Österreichische Alpenverein selbst, der erkannt hat, dass es zu den mehr oder weniger erfolgreichen Event-Gebieten Alternativen geben muss. Er entwickelte die Marke Bergsteigerdorf. Etwa 20 Orte sind bereits dabei und vermarkten sich gemeinsam (www. bergsteigerdoerfer.at). Die Auswahlkriterien, die auch in Deutschland gelten, sind streng, der Alpenverein kontrolliert sie ebenso.

Ein Bergsteigerdorf darf höchstens 2500 Einwohner haben und ein Fünftel seiner Fläche muss als Schutzgebiet ausgewiesen sein. Der dörfliche Charakter muss im Ortsbild, aber auch in der Gemeinschaft der Einheimischen intakt sein. Hotelbunker, neue Lifte und Kanonen sind ebenso verboten wie zum Beispiel ein Wasserkraftwerk in einem Naturschutzgebiet. Entsprechende Pläne könnten Hinterstein im Allgäu, dem zweiten Bergsteigerdorf in Bayern, noch zum Verhängnis werden.

Hinter der Mittagsglocke auf einem Bauernhaus ist die Westseite des Watzmann zu sehen. (Foto: Imago)

Als Hanspeter Mair vom DAV zum ersten Mal von dem Konzept hörte, war er sofort begeistert. "Wir haben gemahnt, den Zeigefinger gehoben, aber wir hatten keine Alternativen." Das wurde dem Alpenverein auch vorgeworfen, als im vergangenen Jahr eine hitzige Diskussion über den Bau des größten Speicherteichs Deutschlands auf dem Sudelfeld entbrannt war. Der ist mittlerweile fertig, ebenso wie ein alternatives Tourismuskonzept. Für die Idee des Bergsteigerdorfes haben sich mit dem Alpenverein und Ramsau zwei ideale Partner gefunden. Der DAV hat das perfekte Vorzeigebeispiel mitten im einzigen Alpennationalpark Deutschlands, und Ramsau mit seiner statischen Postkartenidylle eine Schiene zur besseren Vermarktung.

Denn bei aller Freude an schönen Ideen, "am Ende der Kette muss ein akzeptabler Umsatz stehen", sagt Tourismuschef Rasp. Vier von fünf Menschen in Ramsau leben vom Fremdenverkehr. Wenn die Gäste ausbleiben, stirbt der Ort aus. Die Zahlen stagnierten in den vergangenen zehn Jahren. Einen schnellen Effekt erwarten weder der Tourismuschef noch der Bürgermeister, aber eine Basis für die Zukunft. "Das ist eine Entscheidung auch für die nächsten Generationen", sagt Gschoßmann. Das Bergsteigen in intakter Natur soll auch in Zeiten des Klimawandels den Ort sichern.

Auf diesem Foto posiert Johann Grill (Mitte), der 1881 als erster die Watzmann-Ostwand durchstieg. (Foto: oh)

Für diese Ausrichtung "müssen wir uns nicht verbiegen", sagt der Bürgermeister. Im Gegenteil, Ramsau war immer ein Dorf berühmter Bergsteiger und Alpinisten. Vor dem Rathaus stehen zwei Gedenksteine. Der eine würdigt Hermann Buhl, Erstbesteiger des Nanga Parbat im Himalaja und durch Heirat Bürger des Ortes. Der andere Johann Grill, genannt der Kederbacher, Erstbesteiger der Watzmann-Ostwand und der erste offiziell autorisierte Bergführer Bayerns. "Welches Dorf soll denn Bergsteigerdorf werden, wenn nicht wir?", sagt Paul Lenk, selbst staatlich geprüfter Bergführer. Noch heute gebe es keinen Ort, in dem es pro Einwohner mehr ausgebildete Profis gäbe. Zehn sind es derzeit. Sein Kollege Wolfgang Palzer, den er im Dorfcafé zufällig trifft, spürt das Bergfieber praktisch in jedem Ramsauer. "Wir sind ein Leberkas-Ort", sagt er. "Weil die Frauen vormittags am Berg sind und am Mittag nur schnell einen warmen Leberkas hinstellen."

Die Bandbreite der Touren, die die Touristen gehen können, ist groß. Gipfel wie der Watzmann und der Hochkalter sind den Alpinisten vorbehalten. Die Almen, der Hintersee, der Zauberwald für die Kinder gehören den Wanderern. Auch im Winter oder im Frühjahr, wenn noch Schneereste unter den Bergschuhen knirschen. Bergführer Lenk steigt mit Gruppen gern zur Mordaualm hinauf, wenn sie im Sommer bewirtschaftet ist. Jetzt, da die Alm noch geschlossen ist, kommen nur ein paar Wanderer. Die sitzen auf der Bank, schauen, und schweigen.

© SZ vom 28.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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