Russlanddeutsche:Die Welt der jungen Russlanddeutschen

Russlanddeutsche

In Ingolstadt leben besonders viele Russlanddeutsche.

Insgesamt leben 250 000 russische Einwanderer in Bayern. Die junge Generation macht Karriere, träumt vom Mercedes - und verehrt Putin. Wie das alles zusammenpasst.

Von Ekaterina Venkina

Als Russlands Präsident Wladimir Putin zu Beginn der vierten Amtszeit am 7. Mai durch den Moskauer Regierungsbezirk fuhr, saß er nicht mehr in seinem Mercedes. Er hatte die Limousine durch einen Kortezh, ein Auto "Made in Russia", ersetzt. Bei Martin Weber, der ein großer Fan von Putin ist, steht die deutsche Marke trotzdem noch hoch im Kurs: "Mein erstes Auto soll unbedingt ein Mercedes sein, ein gebrauchter", sagt er. Danach aber müsse schnell ein ladenneuer her, so lautet sein Plan.

Mit seinen 18 Jahren erinnert Weber (Name geändert), ein spindeldürrer Teenager mit Brille, an Leonardo Di Caprio im Film "Wolf of Wall Street": Er jongliert mit fünfstelligen Summen, die er angeblich beim Online-Trading gewonnen und danach "durch einen dummen Fehler" wieder verloren habe, und er verrät seinen Intelligenzquotienten: 148 - damit wäre er ähnlich schlau wie Albert Einstein.

Weber gehört zu der neuen Generation der Russlanddeutschen, die sich in beiden Kulturen zu Hause fühlen. Er besucht eine Berufsschule in München, wo er eine duale Ausbildung zum Lokführer bei der Bahn macht, was denkbar wenig mit der Wall Street zu tun hat, nebenbei arbeitet er aber als Vermögensberater bei einem Finanzvertrieb. Und er hat große Pläne: Mit 25 Jahren will er seine erste Million gemacht haben. Sein Ziel ist die Immobilienbranche. Wie viele andere Hochbegabte, leidet auch Martin an Depressionen und hat in letzter Zeit seinen Freundeskreis drastisch reduziert.

In Ingolstadt, wo er arbeitet, bildet die russischsprachige Bevölkerung die zweitstärkste Gruppe. Insgesamt gibt es in Bayern 250 000 Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, davon sind 204 000 Angehörige der ersten Generation, die schon seit den Achtzigerjahren nach Deutschland kam. Die meisten von ihnen galten als gut integriert, bis 2016 die Öffentlichkeit aufschreckte: Nicht nur in Ingolstadt demonstrierten Russlanddeutsche plötzlich, weil ein Mädchen angeblich von einem Flüchtling vergewaltigt worden war - eine erfundene und von russischen Medien lancierte Geschichte, wie sich herausstellte. Damit aber drängten sich Fragen auf: Leben die Zuwanderer aus dem Osten womöglich in einer Parallelgesellschaft? Welchem Land gilt eigentlich ihre Loyalität? Und wie tickt die junge Generation der Russlanddeutschen?

Ein warmer Frühlingsnachmittag in Ingolstadt. In den gepflegten Gemüsegärtchen am Stadtrand pflanzen alte Frauen ihr "kapusta" - Weißkraut. In den Läden hört man von Zeit zu Zeit Gemurmel auf Russisch. Es wirkt so friedlich wie in einer russischen Datscha auf dem Land. Vor zwei Jahren aber gingen hier Hunderte Russlanddeutsche gegen vermeintliche "Ausländer-Gewalt" auf die Straße. Unter ihnen war auch Webers Mutter.

Er selbst sagt dazu eher wenig. Doch die politischen Entwicklungen in Russland beschäftigen ihn sehr. Seine Eltern verließen mit ihm und seinen Geschwistern die alte Heimat im Süden Westsibiriens, als er fünf Jahre alt war. Damit ist Weber ein Kind der "mitgenommenen Generation", wie er und seine Altersgenossen von Migrationsforschern genannt werden. Die russische Realität ist für ihn eine Parallelwelt, wie für Alice das Wunderland hinter den Spiegeln.

Zu Hause russisch, draußen deutsch

Die älteren Russlanddeutschen plagt in Deutschland oft noch das Heimweh, sie waren dort zu Hause und doch Fremde. Im Gegensatz dazu empfinden heute viele Jugendliche ihren Status sogar als Privileg: "Zu Hause bin ich russisch, und wenn ich draußen mit den Deutschen unterwegs bin, dann bin ich deutsch", sagt Weber. Ihr Wissen über russische Innenpolitik haben sich die Vertreter seiner Generation entweder beim Surfen in sozialen Netzwerken und in anderen Medien angeeignet - oder von ihren Eltern geerbt.

Laut einer Studie der Hanns-Seidel-Stiftung von 2017 interessieren sich zwei Drittel aller Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion für Politik. Obwohl Weber in Deutschland aufgewachsen ist, schwärmt er für Putin, den starken Mann mit Waschbrettbauch und mächtiger Rhetorik. "Putin hat echt viel Gutes in Russland getan", sagt Weber. "Er hat die Sachen wieder aufgebaut, die halt schon kaputt waren. Da kann ich mich nicht beschweren. Es wird immer besser und besser."

Vor 13 Jahren haben seine Eltern vor allem aus materiellen Gründen ihr Heimatdorf verlassen: "Sie konnten zwar leben, aber nicht gut." Hier in Deutschland arbeitet seine Mutter als Köchin, sein Vater ist Lkw-Fahrer. Den Druck, gute Leistungen zu bringen, spürt Martin schon lange. Er redet gerne über die Dinge, die ihm einen hohen wirtschaftlichen Status verschaffen könnten: Villa, Mercedes, Geld. Nach außen hin lebt Weber völlig unauffällig und integriert, es gibt aber auch andere Jugendliche, die sich gegenüber Deutschland abschotten. Viele leben dauernd im Zwiespalt.

Dieser ist mit den Demonstrationen des Jahres 2016 nur noch deutlicher geworden. Putin und Mercedes - in diesen Begriffen spiegeln sich auch zwei Wertesysteme, die miteinander koexistieren, was viele in Deutschland schwer nachvollziehen können. Weber sagt: "Wenn ich Putin so persönlich sehen würde, dann würde ich ihm die Hand geben und sagen: Du machst einen guten Job. Ich bin stolz auf meinen Präsidenten . . . - also, auf den Präsidenten von Russland, natürlich. Er trägt Russland wie auf seinen Schultern." Mit der Auffassung ist Weber nicht alleine: Wie das "Wall Street Journal" vor der russischen Präsidentenwahl berichtete, bekam Putin in Russland von den 18- bis 24-Jährigen eine Zustimmung von 86 Prozent.

Für Helmut Küstenmacher sind solche Sätze der Bewunderung daher nichts Erstaunliches. Der Pfarrer hat die evangelische Aussiedlerarbeit in Ingolstadt gegründet. "Wenn sie Putin sehen und hören, sagen sie: 'Ja, das ist unser Mann'. Aber weiter hinterfragen sie das in diesem Alter nicht", sagt er. Küstenmacher verbindet seit mehreren Jahren kirchliches Engagement und Integration von Migranten. Russland und die ehemaligen sowjetischen Republiken hat er schon mehrmals besucht. Von seinen Freunden wird Küstenmacher scherzhaft "Papst der Russlanddeutschen" genannt. Pauschalisierungen widerstreben ihm: "Ich erlebe diese Menschen, die zu uns kommen, als eine sehr bunte Gruppe."

Ein weiterer Farbtupfer in dieser bunten Gruppe ist Mascha, die in Ingolstadt ins Gymnasium geht, dort das Klavierspielen lernt und im Chor singt. Die 17-Jährige hat sich daran gewöhnt, mit der Realität mehrerer politischer Diskurse zu leben. Ihre Mutter kommt aus Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens, ihr Vater aus Kasachstan. Da Mascha erst nach der Auswanderung zur Welt gekommen ist, wird sie in der Familie vor allem als "in Deutschland geborenes Kind" betrachtet.

"Die Wahrheit muss irgendwo dazwischen liegen"

"Ich finde, es ist immer eine Sache der Ansicht", sagt sie über die so unterschiedlichen Einschätzungen von Sachverhalten in beiden Ländern: "Die deutschen Medien stellen Putin als negative, starke Persönlichkeit dar, die russischen Medien als positive. Also muss die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen", meint Mascha. Nach diesem Pro-und-Contra-Prinzip geht sie auch mit den anderen politischen Ereignissen um, seien es westliche Sanktionen gegen Russland oder aktuell der Fall des vergifteten Agenten Sergej Skripal: "Ich urteile nicht darüber, wer recht hat. Wenn zwei Seiten komplett verschiedene Dinge berichten, ist mir schon klar, dass weder die eine Seite noch die andere komplett die Wahrheit sagt."

Das ganze Gemisch an Informationen lässt sie auf sich wirken und zieht daraus Schlüsse, die zumindest ihr logisch erscheinen: "Eine richtig radikale Meinung zu irgendwas oder festen Standpunkt kann ich mir bei so vielen Vielleichts nicht mal vorstellen", meint sie.

Die 23-jährige Ekaterina Ruslyakova ist erst seit 2017 in Bayern, sie lernt gerade in Nürnberg Deutsch, schwelgt noch in der Euphorie des Neuanfangs und liebt speziell das Reisen in Europa: "Unglaublich, wie man hier überall ohne Grenzkontrolle reisen darf." Ekaterina stammt aus dem Dorf Krasnogorskoje im russischen Altai-Gebirge. Sie zählt zur Generation der "Putinager": "Mein ganzes Leben lang ist Wladimir Wladimirowitsch Präsident von Russland gewesen. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass es anders sein kann", sagt Ruslyakova.

Als Boris Jelzin Staatschef war, da war sie noch ein Kleinkind. Während sie aufwuchs, vollzog sich Putins Aufstieg als zweimaliger Premierminister und dreimaliger Präsident. In ihrem Heimatort hat sich in all diesen Jahren aber nicht viel verändert. "Russlanddeutsche sind ein Volk für sich", sagt sie. "In unseren Dörfern sind die Häuser weiß gekalkt. Alles ist sauber und ordentlich. Möglicherweise haben wir das von den Deutschen geerbt."

Als Ekaterina Ruslyakova nach Deutschland kam, ließ sie drei verschiedene Welten hinter sich: Eine patriarchale und ländliche in ihrem Dorf in den nördlichen Ausläufern des Altais. In dieser deutsch geprägten Enklave Russlands wurde sie geboren. Dann zog sie in die Welt der Industrie: Zur Schule ging sie in Engels, einer Großstadt an den Ufern der Wolga. Und schließlich landete sie in Sankt Petersburg, einer Welt aus prachtvollen Palästen, Kirchen und intensivem Kulturleben. Dort hat Ekaterina Ruslyakova Fahrzeugtechnik studiert. Danach ging sie nach Deutschland, wo sie "neue Horizonte für sich entdecken wollte".

Ihre Nomadenseele hat sie von ihren Vorvätern geerbt. Im Laufe der Geschichte sind sie immer wieder hin- und hergeschoben worden. Vor über 250 Jahren holte die deutschstämmige Zarin Katharina die Große viele ihrer Landsleute nach Russland. Stalin hat sie nach Sibirien deportiert. Heute schaffen sich ihre Kinder in Deutschland eine neue Welt: die Welt der Putin-Anhänger, Querdenker und Zweifler.

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