Im Januar 1937 interessierte sich die Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberbayern plötzlich für die Gefangenen des Konzentrationslagers in Dachau. Ob man eine Liste der dort festgehaltenen „politischen Schutzhaftgefangenen“, die Rente erhielten, haben könne, wollten die Funktionäre von der Gestapo wissen. Diese reagierte prompt und schickte die Namen von 14 Dachauer Häftlingen, viele davon Mitglieder des kommunistischen Widerstands. Unter ihnen war auch Karl Bindl, ein 38-jähriger Invalidenrentner, der als Schlosser gearbeitet hatte. Als Mitglied einer kommunistischen Gruppe hatte Bindl illegale Zeitschriften verbreitet. Im Sommer 1934 war er verhaftet und zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Sein Leid aber endete nicht nach der Haft. Die Gestapo brachte ihn vom Gefängnis direkt ins KZ Dachau.
Finanziell wurde er ebenfalls weiterhin gestraft. Wie in der Reichsversicherungsordnung vorgesehen, hatte die LVA Oberbayern Bindl während der Haftzeit die Rente weitgehend entzogen. Doch obwohl die Rechtslage es damals noch anders vorsah, hob sie diesen Bescheid auch nicht auf, als er ins KZ kam.
Der Fall des Schlossers Bindl ist eines von mehreren Einzelschicksalen, die die Autoren Christoph Wehner und Marc von Miquel in ihrer Forschungsarbeit „Die Landesversicherungsanstalten im ,Dritten Reich’“ beschreiben. Die Beispiele zeigen, wie sich die einst stolzen demokratischen Institutionen der Landesversicherungsanstalten Niederbayern-Oberpfalz, Oberbayern, Ober- und Mittelfranken, Schwaben sowie Unterfranken während der NS-Zeit in den Dienst des Terror-Regimes stellten. Finanziert haben die Forschungsarbeit die bayerischen Rentenversicherungsträger. Die Erkenntnisse sollten Mahnung sein, wachsam zu bleiben und für demokratische Werte einzutreten, sagte Verena Di Pasquale, Vorsitzende des Vorstandes der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd, bei der Vorstellung der Forschungsarbeit am Montag in München.
Es zeigt sich, dass sich die Rentenversicherungen während der NS-Zeit grundlegend veränderten. Dies betraf einerseits das Personal: Wie in anderen öffentlichen Institutionen wurden auch hier politisch missliebige sowie jüdische Beamten und Angestellte aus den Ämtern gedrängt. Gleichzeitig wich die demokratische Selbstverwaltung einem hierarchischen Führerprinzip. Ehrenamtliche Vorstände, unter ihnen viele Gewerkschaftler, wurden massenhaft aus ihren Ämtern gedrängt. Als prominentes Beispiel nennen die Autoren hier die Münchner Gewerkschaftler Gustav Schiefer und Max Peschel, die nicht nur ihrer Ämter bei der LVA Oberbayern beraubt wurden, sondern bei der Besetzung des Münchner Gewerkschaftshauses auch misshandelt und später ins KZ gebracht wurden. Beide überlebten die Diktatur nur mit Glück, kehrten danach in den Vorstand der Münchner LVA zurück.
In ihrem Handeln wiederum waren die Landesversicherungsanstalten an NS-Unrechtstaten mittel- wie unmittelbar beteiligt. Das weisen die Forscher in ihrem Buch kleinteilig nach. Die Praxis, sogenannten Staatsfeinden die Rente zu entziehen, war dabei nur ein Teil dieses Wirkens. Anfangs geschah dies wie im Fall des invaliden Schlossers Bindl teils in Eigeninitiative. 1936 wurde es dann eine gesetzliche Vorgabe, die die politischen Gegner einzuschüchtern sollte. Nach Kriegsbeginn setzten die Versicherer außerdem die Rentenzahlungen an Juden aus und wirkten so an der kollektiven Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung mit.
Die Rentenversicherer gestalteten in der NS-Zeit aber auch die Sozial- und Gesundheitspolitik mit. Zwei Felder hoben die Forscher hier hervor. Einerseits waren die Rententräger traditionell für die Kur von Tuberkulose-Kranken zuständig. Für diese Krankheit gab es damals noch kein Heilmittel und sie machte viele Menschen zu Invaliden, was dem Sozialstaat hohe Kosten verursachte. In der NS-Zeit nahm die Seuchenbekämpfung radikale Züge an. Statt der Krankheit bekämpfte man zunehmend die Kranken selbst. Von 1938 an durften die Kranken zwangsweise „abgesondert“ werden. Und es wurde das Mittel der „Arbeitstherapie“ erfunden. Damit sollten die als nutzlos geltenden Kranken zur Arbeit in der Rüstungsindustrie gezwungen werden. Die Radikalisierung in der Seuchenbekämpfung wurde von Mitarbeitern der bayerischen Rentenversicherung „nicht nur begleitet oder umgesetzt, sondern aktiv betrieben und beschleunigt“, schreiben die Forscher.
Dieser Krankenterror zeigte sich auch auf einem anderen Feld: dem Vertrauensärztlichen Dienst. Ursprünglich als Kontrollorgan für Ärzte geschaffen, betätigte sich der Dienst in der NS-Zeit als Gesundschreiber. Wurden in einzelnen Betrieben oder Bezirken hohe Krankenstände bekannt, so rückten Vertrauensärztliche Stoßtrupps zur Musterung an. Auf die Gesundheit der Arbeiter wurde dabei wenig Rücksicht genommen. Erklärtes Ziel war es, die Krankenstände zu drücken.