Geschichte:Bayerns erster Kanzler

Freiherr von Hertling, Graf Stierum und Bahnhofskommandant Reiss, 1918

Reichskanzler Georg Graf von Hertling (Mitte) bei seiner Ankunft im Großen Hauptquartier in Spa im September 1918.

(Foto: SZ Photo/Scherl)

Vor hundert Jahren starb der Georg Graf von Hertling, der von 1912 bis 1917 Vorsitzender des bayerischen Ministerrats war. Das Amt des Reichskanzlers wurde ihm zum Verhängnis.

Von Hans Kratzer

Das Jahr 1912 ist in Bayern nur auf den ersten Blick unscheinbar verlaufen. Jedenfalls hat es Spuren hinterlassen, die bis heute sichtbar sind. In der Zeitschrift Simplicissimus begann damals beispielsweise die Karriere der Kunstfigur Jozef Filser: "Gelibte Leser", schrieb der grobschlächtige Bauernpolitiker, "ich bin der Jozef Filser, kgl. Abgeorneter im Barlamend . . ." In insgesamt 39 Briefen schilderte Filser alias Ludwig Thoma unter Verwendung einer Freistil-Orthografie seine Eindrücke aus dem Landtag und gibt seine Kommentare zur Landespolitik ab. Adressaten waren seine Frau Mari sowie Freunde und Bazis vom gleichen Schlag wie der Filser. Politische Mauscheleien thematisierte Filser ebenso wie seine Abenteuer als unbedarfter, aber gewitzter Landmensch in der sündigen Großstadt München.

Ludwig Thoma ordnete den Abgeordneten Filser der Zentrumspartei zu. Diese wurde vor allem von der katholischen Landbevölkerung, dem Kleinbürgertum sowie von der Geistlichkeit und dem katholischen Adel gewählt. Dem Zentrum gehörten zahlreiche Priester an, ein Viertel seiner Landtagsabgeordneten waren Geistliche. In der Partei gab es zwei konkurrierende Flügel. Den bäuerlichen, dessen herausragender Vertreter Georg Heim war, sowie den konservativ-adeligen Flügel, zu dessen Exponenten der Philosophieprofessor Georg Graf von Hertling gehörte.

Obwohl sein Name nur noch Historikern geläufig ist, zählt Hertling dennoch zu den zentralen Figuren der jüngeren bayerischen Geschichte. Von 1912 bis 1917 war er als Vorsitzender des Ministerrats quasi Ministerpräsident, danach versah er das Amt des Reichskanzlers. Eine deutsche Karriere, die in der Bundesrepublik kein bayerischer Politiker mehr geschafft hat. Erwähnenswert ist gewiss, dass Hertling ein Großneffe von Bettina von Arnim und Clemens Brentano war. Überdies ist die Schauspielerin Gila von Weitershausen seine Urenkelin.

Als Politiker musste sich Hertling in schwierigsten Zeiten bewähren, nicht zuletzt in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Ein strahlender, vor Erfolgen strotzender Politiker wurde er unter diesen Umständen nicht. Vielmehr steht er als Politiker exemplarisch für jene Verlierer, die sich aussichtslos gegen den Niedergang der alten Welt stellten, aber von den Stürmen der Erneuerung hinweggefegt wurden.

Zu den Kritikern der Kaste um Hertling zählte nicht zuletzt Schriftsteller Thoma. Er schuf den gscherten Gloiffe Filser auch deshalb, um mit dessen Munde gegen die Zentrumspartei und gegen den politisierenden Klerus zu flegeln. Filser diente Thoma nicht nur als Sprachrohr, sondern als Zentrumsabgeordneter auch als Zielscheibe. Der bauernschlaue Hinterbänkler, der sich an den "Groskobfeden" reibt, ist ein Teil dieses Systems. Er zählt zur Riege der Großschädel, denen der Pfarrer einflüstert, welche Politik die richtige ist: "Ich habe als Man des Folkes nichd gewißt das ich zur Regirung beruffen bin sontern inser hochwirninger Her Bfarrer hat es entdekt."

Am 9. Februar 1912 berief der Prinzregent Luitpold den altgedienten Politiker Hertling zum Vorsitzenden des bayerischen Staatsministeriums und zum Außenminister. Der aus einer kurpfälzischen Beamtenfamilie stammende Hertling war kein unbeschriebenes Blatt. Als Präsident der Görres-Gesellschaft zählte er zu den führenden Köpfen des deutschen Katholizismus, seit 1875 gehörte er mit Unterbrechungen dem Reichstag in Berlin an, seit 1909 fungierte er dort als Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei.

Ein Umbruch voller Verwerfungen

Sein neues, ultrakonservatives Ministerium in Bayern sah sich mit zunehmenden sozialen Spannungen konfrontiert. Jenes von 1886 bis 1912 reichende Vierteljahrhundert, in dem der Prinzregent Luitpold an der Spitze des Königreichs Bayern stand, wird oft als die gute alte Zeit verklärt. Tatsächlich schenkte die Prinzregentenzeit den Bayern fast 30 kriegsfreie Jahre, in denen sich das Land wirtschaftlich, sozial und kulturell gut entwickelte. Trotzdem herrschte überall ein Umbruch voller Verwerfungen. Wie notig das Leben der kleinen Leute war, ist vielen literarischen Zeugnissen zu entnehmen, etwa den ebenfalls 1912 erschienenen "Erinnerungen einer Überflüssigen" von Lena Christ und dem Volksstück "Magdalena" von Thoma.

In jenem Jahr 1912 starb überdies der Prinzregent, aber noch war Bayern ein Königreich. Als seine wichtigsten Ziele nannte Hertling die Stärkung der Monarchie und den Kampf gegen die SPD, die als antichristlich und revolutionär galt. Insofern versuchte die Regierung 1913 den Eisenbahnern den Beitritt zum SPD-nahen Eisenbahnerverbund zu verwehren und das Verbot der Zugehörigkeit von Gemeindebeamten zu dieser Partei zu verschärfen. Im Landtag folgten harte Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition.

Unbill zog sich Hertling auch in der Königsfrage von 1913 zu. An der Spitze des Königreichs stand ja ein Prinzregent, weil König Otto wegen einer Geisteskrankheit nicht regieren konnte. Auf Luitpold folgte als Prinzregent sein Sohn Ludwig. Da die seit 1886 geführte Regentschaft des Prinzregenten die Regierung verfassungsrechtlich stark beschränkte, setzten Ludwig III. und Hertling eine Verfassungsänderung durch. Ludwig III. war fortan König, was ihm das Volk sehr übel nahm.

Außenpolitisch konnten Ludwig III. und Hertling dagegen keine Akzente setzen. Nach dem 1870 erfolgten Verlust der Unabhängigkeit wehrte sich Bayern kaum noch gegen das Hineinwachsen in das Deutsche Reich und riskierte keine Auseinandersetzung mit der aggressiven Reichsregierung in Berlin. Beim Kriegsausbruch 1914 spielte Bayern deshalb keine Rolle, es taumelte so kriegsbesoffen wie alle anderen deutschen Länder in den Ersten Weltkrieg hinein und nahm ergeben die Befehle aus Berlin entgegen. Bis der Krieg das Land ernüchterte und in die Erschöpfung führte. Hertling hatte mit Problemen wie Ernährungskrise, Vertretung bayerischer Interessen bei der Reichsleitung und Modernisierung des Regierungssystems heftig zu kämpfen. Nach dem Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und dem Scheitern von dessen Nachfolger Georg Michaelis übernahm der geschwächte Hertling 1917 als erster Nicht-Preuße die Ämter des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten.

Es blieb bei ersten Schritten in Richtung Parlamentarisierung und Demokratisierung, Hertling strebte etwa eine Wahlreform an. Er verlor aber bald das Vertrauen des Reichstags, vor allem der SPD. Obwohl er im Grunde genommen eine Mehrheit hinter sich hatte, konnte er sich gegen die Oberste Heeresleitung nicht durchsetzen. Deren anhaltender Einfluss und die stockenden Reformen wurden ihm zum Verhängnis. Ende September 1918 war das Ende seiner Reichskanzlerschaft besiegelt, selbst seine eigene Partei, das Zentrum, traute ihm nicht mehr zu, in der komplizierten Gemengelage eine sofortige konsequente Friedenspolitik in die Wege leiten zu können. Auch der bayerische Kronprinz Rupprecht hielt Hertling nun für zu alt und "so gut wie willenlos". Kaiser Wilhelm II. entließ ihn schließlich wegen fehlenden Rückhalts im Reichstag. Sein Nachfolger wurde Prinz Max von Baden.

Nach dem revolutionären Umsturz in Deutschland vertraute Georg von Hertling tief enttäuscht einem Freund an, er hätte die Kanzlerschaft nicht annehmen sollen. Den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Kriegsende stand er ratlos gegenüber. Seelisch tief erschüttert, arbeitete Hertling bis zuletzt an der Niederschrift seiner "Erinnerungen". Drei Monate nach seiner Demission starb er auf seinem Landsitz in Ruhpolding. Georg von Hertling ruht in der Gruftkapelle des dortigen Bergfriedhofs.

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