Süddeutsche Zeitung

Weltberühmter Knabenchor:Der Mann, der die Domspatzen verändert hat

25 Jahre lang prägte Roland Büchner als Leiter die Regensburger Domspatzen. Mit ihm zog dort ein neuer Stil ein - musikalisch und vor allem menschlich. Nun geht er in Rente.

Von Rudolf Neumaier

Solche Geschichten wird Roland Büchner mitnehmen. Es war in Metten, vor einem Konzert in der Abteikirche. Zum Einsingen hatte er die Motette "Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit" von Max Reger ausgewählt. Er winkte ab, vielleicht weil ihm der Chor noch zu lahm war, vielleicht auch weil er manchmal sein Innerstes herauskehren muss, er ist Künstler. "Wisst ihr, warum mich dieses Stück berührt?" Der Chor schwieg. "Weil ich jeden Tag an den Tod denke. Aber ich glaube auch, ich werde nicht ins Bodenlose fallen." Die Sänger hielten inne - und sangen ein Konzert, das er nicht vergessen wird. Danach seien wildfremde Menschen auf ihn zugekommen, völlig ergriffen. "Was war denn da los?", fragten sie, "das war nicht mehr von dieser Welt."

Ja, das war es ganz sicher nicht, sagt Roland Büchner, 65. Sein Chor ist für ihn, den Kirchenmusiker, ein Medium gewesen und der Klang, den er mit ihm erzeugte, war Seelenbalsam. Da finde Heilung statt. "Und das habe ich so gern mit den Burschen geteilt." Nun verabschiedet er sich von den Domspatzen, die er jetzt 25 Jahre lang geleitet hat.

Er empfängt Besucher in seinem Behelfsbüro. In den letzten Monaten hat er hier gearbeitet. Waschbecken, Arbeitstisch, CD-Player, Stockbett. Ein umfunktionierter früherer Sechstklässler-Schlafraum, für ein Klavier ist hier kein Platz. Büchner ist einer Baustelle ausgewichen, im unteren Stockbett ruht er sich manchmal aus.

Es ist in seiner Amtszeit alles umgebaut und erneuert und modernisiert worden. Nicht nur die Mauern der Dompräbende, wie das alte Internatsgebäude in verstaubter Tradition hieß. Die ganze Domspatzen-Institution bebte. Vulkanartig entluden sich vor nunmehr bald zehn Jahren vertuschte Schülerschicksale über sie. Jahrzehntealte Missbrauchsfälle im Domspatzen-Internat und Prügelorgien in der Vorschule, ausgeübt von einem sadistischen Priester, fielen plötzlich Roland Büchner vor die Füße.

Ausgerechnet ihm, der nichts mit alldem zu tun und vom ersten Tag seines Wirkens an einen anderen Stil ins Haus gebracht hatte: einen offenen, ehrlichen, kollegialen. "Mit seiner wertschätzenden Art hat er eine besondere Atmosphäre ins Haus gebracht, einen anderen Geist", sagt Marcus Weigl, der unter Büchners Vorgänger Georg Ratzinger Domspatz war und vor einem Jahr ins Management eingestiegen ist. Am vergangenen Dienstag hat er eine Überraschungsgala für Bü moderiert. So nannten sie ihn: Bü. Der Wolfgangssaal platzte aus allen Nähten. Sie überreichten Bü seine letzte CD: "Terra Sancta", eine Einspielung des Programms der Israel-Tournee im vergangenen Jahr.

Es gibt Domspatzen-Fans, die das unvergleichliche Pianissimo vermissen, diesen Ausdruck geheimnisvollster Ehrfurcht, zu dem der Chor unter Georg Ratzinger fähig war. Sie erkennen aber auch an, dass sich der Klangkörper unter Büchner entwickelte. Der Chor bekam nun die Wucht, um sich bei Großprojekten wie Leopold Mozarts "Missa Solemnis" und Haydns Schöpfung neben dem Orchester zu behaupten. Der neue Domkapellmeister ließ jedem einzelnen Sänger individuelle Stimmbildung angedeihen. "Er ist ein absoluter Klangfanatiker", sagt Weigl. Als Edmund Stoiber das Gymnasium von neun auf acht Jahre umstellte und die Domspatzen ein Problem mit Bässen und Tenören bekamen, schickte Büchner sogar die Jungs im Stimmbruch zur Stimmbildung.

Immer mit dem Gottesdienst am ersten Weihnachtsfeiertag verabschiedet sich der alte Männerchor, um sich aufs Abitur vorzubereiten. Und in der ersten Singstunde hatte Büchner dann immer den nächsten Jahrgang vor sich. Jedes Jahr, 25 Mal. "Ich dachte mir, was ist denn jetzt los." Und jedes Jahr bekam er es wieder mit seinem vollen, direkten Roland-Büchner-Klang. "Mir war schon nach zwei Monaten klar, dass das hier eine Sisyphos-Arbeit ist." Später hörte er in der Abschiedsvorlesung seines Freundes, des Philosophen Ulrich Hommes, dieser vermeintlich tragische Sagenheld müsse ein glücklicher Mensch sein. Klar, sagt er, dieses Immer-wieder-neu-Anfangen und Januar für Januar schon mit dem Proben der Karwochen-Liturgie zu beginnen, das sei immer wieder großartig gewesen. Er hatte es nicht mit einem Stein zu tun, sondern "mit feinen Menschen. Das wird mir fehlen". Mit diesem Schuljahr ist es vorbei. Im September steht mit dem ehemaligen Domspatzen Christian Heiß ein neuer Domkapellmeister vor seinem Chor.

Was Büchners Stil ausmacht, ist im ganzen Haus spürbar, wenn man den Mann begleitet. Es gibt im Speisesaal keinen herausgehobenen Cheftisch mehr, von dessen Mitte aus der Domkapellmeister über eine disziplinierte Abspeisung wacht. Büchner, seine Chorleiterkollegin und Pädagogen sitzen auf gleicher Ebene und holen sich wie die Sänger auch selbst ihren Kartoffelsalat vom Büffet. Und wenn er aus dem Speise- Richtung Chorsaal unterwegs ist, klopft er dem einen auf die Schulter und erinnert den anderen daran, bei der anstehenden Konzertreise nach Brandenburg doch bitte an die Medikamente zu denken, die der Bub derzeit regelmäßig einnehmen muss. Büchner kennt sich aus. Und zwar mit jedem. "Ich hatte nie Lieblinge, die ich besonders gefördert habe", sagt er, "ich wollte jeden weiterbringen."

Was er mitnimmt? Die Frage trifft sich gut, für die vielen Abschiedsfeiern wurde er um eine Auflistung der prägendsten Erlebnisse gebeten. Mozarts c-Moll-Messe in der Sixtinischen Kapelle, ein Gottesdienst in einem südafrikanischen Aids-Hospiz, Palestrinas "Laudate Dominum" am Grand Canyon. Und die vielen, vielen Proben mit seinen Burschen. Jetzt will er viel mit seiner Frau reisen und kochen und Kunstgeschichte studieren.

Gute Chorleiter können mit einer winzigen Fingerbewegung einen ganzen Chor steuern. Bei Georg Ratzinger reichte ein leichtes Zittern des kleinen Fingers, um die Domspatzen aufs berühmte Pianopianissimo zu dimmen.

Bei Roland Büchner ist es das vordere Daumenglied. Er braucht es nur leicht nach vorne klappen, schlagartig wird aus einem eher belanglos dahingesungenen "Aaa" ein strahlender Vokal aus hundert Kehlen. Die Münder öffnen sich, die Töne bekommen Resonanz - die Büchner-Resonanz.

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SZ vom 27.07.2019/aner/kast
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