Regensburg:Wo Schüler tanzend Grammatik lernen

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Satzglieder bestimmen in der Tanzklasse: "Der Nebensatz hängt leise am ebenfalls stillen Hauptsatz", ruft Deutschlehrer Stephan Roggenbuck.

(Foto: Sebastian Pieknik)

Am Regensburger Goethe-Gymnasium lernen Fünftklässler den Unterrichtsstoff mithilfe von Bewegungen und Musik. Längst haben die beiden Tanzklassen mehr Bewerber, als es Plätze gibt.

Von Anna Günther, Regensburg

"Yo, Man, Yo, Sie betreten die Klasse der Pros!" Noch Fragen? Mit dem typisch-zähen Guten-Morgen-Singsang in Bayerns Schulen hat dieser Gruß nichts zu tun. Die Klasse 5 a des Regensburger Goethe-Gymnasiums tanzt und schmettert ihre Begrüßung. Ungewöhnlich? Für die 33 Kinder ist das Alltag, sie lernen in der Tanzklasse.

Seit 2014 gibt es dieses Unterrichtskonzept am Goethe-Gymnasium, die Nachfrage war von Anfang an groß. 66 Fünftklässler lernen heuer anders als ihre Mitschüler. Auch für das neue Schuljahr gibt es wieder deutlich mehr Anmeldungen als freie Plätze. Die beiden Tanzklassen lernen den Stoff in Deutsch, Sport und Musik anders als die Kinder in den Regelklassen. In diesen Fächern unterrichten die Regensburger Lehrer gemeinsam mit Tanzpädagoginnen. Ihr Ziel ist es, mit Bewegung den Kindern das Lernen zu erleichtern, damit sie Spaß in der Schule haben und gute Noten schreiben.

Die Umstellung von Frontalunterricht zur Bühne dauert wenige Minuten, Tische an die Wand und los geht's. Deutsche Grammatik steht auf dem Programm. Klassenlehrer Stephan Roggenbuck ruft "Freaze!" Das erwartete Chaos bleibt aus. 33 Kinder erstarren, kein Mucks ist zu hören. Roggenbuck wartet kurz, ruft: "Go!"

Die Schüler haben die Besucher auf der Fensterbank längst vergessen. Sie murmeln leise mit ihrem Nachbarn. "Diese Disziplin kommt vom Tanzen", sagt Schulleiter Bernhard Rothauscher leise. Lehrer Roggenbuck teilt Blätter mit Konjunktionen aus. Die Kinder sollen bei jedem Wort entscheiden, ob sie Satzreihen oder Satzgefüge darstellen. Roggenbuck ruft "wenn", vier Paare stehen auf. Einer steht stabil im Ausfallschritt, der Partner hält sich an der Hand fest und lässt sich nach hinten fallen. "Satzgefüge!", ruft ein Mädchen. "Genau", sagt Roggenbuck, "der Nebensatz hängt leise am ebenfalls stillen Hauptsatz!"

Zwei Hauptsätze haken sich locker beieinander ein, bleiben aber gerade nebeneinander stehen. Die Fünftklässler im Sitzkreis gleichen ihre Notizen ab. Mit selbst erlebten Eselsbrücken merken sich die Schüler den Stoff leichter als durch reines Pauken. Und können sich nach der Tanzeinlage am Stundenbeginn leichter konzentrieren. Nächstes Thema: Adverbiale Bestimmungen. Die Tanzklässler analysieren den Satz "Bei Regen trage ich ungerne Sandalen."

Statt ins Heft zu malen, springen fünf Schüler auf die Tische - nacheinander, wenn sie ihr Satzglied richtig bestimmt haben. Juri wird zum Subjekt, Fiona zur adverbialen Bestimmung. "Und wie ersetzen wir jetzt Fiona?", fragt die Tanzpädagogin Kilta Rainprechter. Antwort: Durch den Nebensatz "Wenn es regnet" - dargestellt von drei Kindern, untermalt von einer Regenbewegung. Fiona bleibt auf dem Tisch stehen und bewegt ihre flatternden Finger von oben nach unten, wie Regentropfen.

Das Konzept entwickelte Roggenbuck 2014 mit der Tanzpädagogin Rainprechter, die seit Jahren mit ihm und der Theatergruppe des Goethe-Gymnasiums arbeitet.

Die Kinder sind konzentrierter und entspannter

Sechs fünfte Klassen lernen derzeit am Goethe-Gymnasium, die Unterschiede der Tanzkinder zu ihren Mitschülern in den Regelklassen seien gravierend, finden Klassenlehrer Roggenbuck und Direktor Rothauscher.

Deutlicher als bei den Noten zeige sich das im Verhalten der Schüler: Sie könnten sich besser konzentrieren, seien disziplinierter und weniger zappelig, selbstbewusster, entspannter und gingen gerne in die Schule. Außerdem hätten die Buben und Mädchen in wenigen Wochen Körperbeherrschung entwickelt und könnten bewusst innehalten, sagt Rainprechter.

Auch Toleranz und Gespür für ihre Mitschüler seien stärker ausgeprägt als bei Gleichaltrigen. "Die 5 a ist eine ganz normale Klasse", sagt Lehrer Roggenbuck, "aber der Umgang miteinander ist nicht normal - sie sind besonders."

Tatsächlich zögert ein Bub bei der Satzgefüge-Partnersuche kaum, bevor er zum einzigen Mädchen geht, das noch alleine ist. Dabei hatte er schon eine Nebensatz-Hauptsatzpartnerin, bis sich deren Freundin dazwischendrängelte. "Das Mädchen ist Mutistin, sie spricht fast nicht. In der Pause würde er nichts mit ihr machen, aber sie stand allein, also ist er zu ihr gegangen. Punkt", sagt der 46-jährige Lehrer. Er ist von seinem Konzept überzeugt, am ersten Schultag werden sogar die Eltern zum Tänzchen aufgefordert. Auch die tänzelnden Schritte der Kollegen auf dem Gang würden seltener, sagt er und lacht.

In der Hoffnung auf Fördergeld vom Kultusministerium evaluierten Roggenbuck und Rainprechter, 45, das Konzept und befragten alle Kinder sowie deren Eltern. Die Zufriedenheit ist demnach sehr groß, die Schüler haben das Gefühl, besser lernen zu können, und wünschen sich bewegte Eselsbrücken auch in Mathe- oder Englischstunden. Auch sie loben die Klassengemeinschaft und geben an, gerne in die Schule zu gehen. Allerdings berichten die Eltern ehemaliger Tanzschüler, dass die Stimmung kippt, wenn sie in der sechsten Klasse wieder normale Stunden haben.

Kilta Rainprechter und Stephan Roggenbuck würden den Tanz-Unterricht am liebsten bis zum Abitur anbieten. Das kann sich die Schule nicht leisten. Das Goethe-Gymnasium ist mit 1200 Schülern vergleichsweise groß und Schulleiter Rothauscher verfügt über entsprechendes Budget. Aber für weitere bewegte Klassen mit je zwei Pädagogen reicht es nicht. "Das ist ein echter Kraftakt", sagt Direktor Rothauscher. Um nach den Sommerferien wieder zwei Tanzklassen anbieten und die beiden Tanzpädagoginnen bezahlen zu können, musste er Spenden sammeln.

Geld vom Kultusministerium gibt es bisher nicht. Nur nach Einzelfallprüfungen und in "besonders gelagerten Ausnahmefällen" könnten ein Budgetzuschlag oder finanzielle Zuschüsse gewährt werden, heißt es dort. Rothauscher lässt sich davon nicht entmutigen. Der 45-Jährige will das Konzept weiterentwickeln und auf Mathe sowie Englisch ausdehnen. Mittelfristig werde auch die sechste Klasse dazukommen. Bis dahin bilden sich die Regensburger Lehrer selber fort, um Tanzelemente in ihre Stunden aufzunehmen. So sollen die Schüler möglichst lange von ihren Erfahrungen des ersten Jahres am Gymnasium profitieren.

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