Süddeutsche Zeitung

Nach dem Münchner Missbrauchsgutachten:Auch im Bistum Regensburg rumort es gewaltig

Die Termine für Kirchenaustritte sind ausgebucht. Selbst über die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde für den emeritierten Papst Benedikt XVI. wird diskutiert. Doch die Entfremdung reicht viel weiter zurück.

Von Deniz Aykanat, Regensburg

Am 1. Februar 2022, zur Mittagszeit, gibt es auf der Homepage des Regensburger Standesamtes für den gesamten restlichen Monat keinen freien Termin mehr, um aus der katholischen Kirche auszutreten. Es ist das Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising, das Schockwellen auslöste, die bis ins Bistum Regensburg zu spüren sind. Dabei ist man hier einiges gewohnt. Hier war Gerhard Ludwig Müller Oberhirte von 2002 bis 2012, der spätere Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregration, bekannt als erzkonservativer Hardliner, der selbst in sehr kirchentreuen Kreisen immer wieder auf Kritik stößt.

Er schaffte seinerzeit in einer deutschlandweit einmaligen Aktion den Diözesanrat in Regensburg ab, das wichtigste Laien-Gremium. Hier wurde der Missbrauch Hunderter Kinder im weltberühmten Knabenchor der Regensburger Domspatzen offenbar, den viele Jahre lang Georg Ratzinger, der Bruder des emeritierten Papstes leitete. Hier ist nun Rudolf Voderholzer Bischof, der ebenfalls nicht mit liberalen Ansichten auffällt. Doch das, was das Münchner Gutachten zutage förderte, zumal die Schuld, die dabei der Regensburger Ehrenbürger Papst Benedikt XVI. auf sich geladen haben soll, verschafft dem Ganzen in den Augen vieler Gläubiger offenbar eine neue Dimension.

"Ich spüre, dass es in Regensburg eine große Empörung gibt darüber, wie sich eine Kirche, die sich ethisch auf einem ganz anderen Boden bewegen sollte, so verhalten kann", sagt Oberbürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer (SPD). Das Bistum selbst hat inzwischen ein Austritts-Telefon eingerichtet. Der Leiter des Seelsorgeamts des Bistums, der Chef der Caritas und ein Priester stehen bereit, mit Foto und ihren Handynummern. "Die Telefonierer berichten von sehr vielen Gesprächen. Viele sachlich und kritisch. Andere zornig und aufgewühlt. Wieder andere ermutigend und stützend. Das Angebot wird angenommen und kam zur rechten Zeit", sagt Clemens Neck, der Sprecher des Bistums.

Die Stimmung im Ordinariat ist angespannt, man ist skeptisch gegenüber der Presse, fürchtet einen unfairen Umgang, vor allem seit den Äußerungen von Bischof Rudolf Voderholzer. Der sagte jüngst bei der Synodalversammlung, dass eine Strafrechtsreform von 1973 Kindesmissbrauch nicht mehr als Verbrechen gewertet habe "und zwar auf der Basis von sexualwissenschaftlichen Urteilen, die davon ausgehen, dass für die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Vernehmungen wesentlich schlimmer sind als die im Grunde harmlosen Missbrauchsfälle". Das Entsetzen ist groß, man wirft ihm vor, sexuellen Missbrauch zu bagatellisieren. Er konkretisierte zwar sofort, dass er sich die - angeblich damals verbreitete - Auffassung gerade nicht zu eigen habe machen wollen. Aber da waren die Worte schon in der Welt.

"Egal wie man den Satz versteht, für die Betroffenen ist so eine Formulierung schwer zu ertragen", sagt Horst Böhm. Er ist ehemaliger Präsident des Landgerichts Regensburg und Vorsitzender der seit Mai 2021 eingesetzten Kommission, die Missbrauch in der Diözese Regensburg aufklären und aufarbeiten soll. Er hat mit vielen Betroffenen gesprochen, wiederkehrend sei fast immer dasselbe Muster: Sie konnten mit niemandem darüber sprechen und wenn, dann wurden Gewalt und Missbrauch heruntergespielt und verharmlost. Die Kommission ist gerade dabei, den Betroffenen-Beirat zu bilden. "Wir brauchen die Betroffenen als Mit-Entscheider. Wenn sie genau in dieser Phase verletzt werden, gefährdet das ihre Mitwirkung."

Wenn ein Bischof solche Sätze sagt, kann die Kirche dann ernsthaft den Missbrauch aufarbeiten? Sollte nicht der Staat das übernehmen? Böhm hält davon nicht viel, die Kommission sei auch so unabhängig. "Egal, was der Bischof beim Synodalen Weg sagt, das tangiert unseren Weg nicht." Auch könne die Justiz beispielsweise verjährte Fälle nicht aufarbeiten. Gerade sei eine Homepage im Aufbau, damit Betroffene nicht den Weg übers Bistum gehen müssen, sondern sich direkt an die Kommission wenden können. Außerdem will Böhm ein weiteres externes Gutachten in Auftrag geben, das auch alle Fälle außerhalb des Domspatzen-Komplexes aufklären soll.

Es werde Jahre dauern, alle Taten zu erfassen, sagt Böhm, und am Ende steht die Frage: "Was sind die Folgen?" Für Fritz Wallner, den letzten Vorsitzenden eines Regensburger Diözesanrats, ist klar: "Die Köpfe müssen ausgetauscht werden." Er kann sich noch gut erinnern, wie das damals war mit Bischof Müller, als der die Mitwirkung von Laien in seinem Bistum beschnitten hat. "Die Auswirkungen sind noch heute zu spüren." Im März sind Pfarrgemeinderatswahlen. Wallner, selbst lange Mitglied im Gremium seiner Gemeinde, wundert es nicht, dass sich immer weniger Gläubige zur Wahl stellen. "Seit Jahren wird uns signalisiert: Wir werden eh nicht gebraucht." Doch die Kirche bestehe nicht nur aus Priestern und Bischöfen.

Trotzdem geht es hauptsächlich um eben diese. "Seit Jahren geht es zu wenig um die Opfer, sondern vor allem um das Ansehen und die Institution der Kirche", sagt Regensburgs Oberbürgermeisterin. Zum Beispiel um das Ansehen des emeritierten Papstes. Benedikt XVI. hatte in einer Stellungnahme an die Münchner Gutachter geschrieben, er - damals Erzbischof von München und Freising - sei bei einer entscheidenden Ordinariatssitzung nicht dabei gewesen, als es um die Aufnahme eines pädophilen Priesters im Erzbistum ging. Die Gutachter wiesen das Gegenteil nach. Benedikt erklärte daraufhin, bei seiner Stellungnahme sei ein Fehler unterlaufen. Die Falschangabe sei unbeabsichtigt gewesen. Er verteidigte sich gegen den Vorwurf, gelogen zu haben. Kritiker werfen ihm vor, die Verantwortung von sich zu weisen. So geht es seit Wochen hin und her.

Soll die Stadt dem emeritierten Papst also die Ehrenbürgerwürde entziehen, die ihm 2006 verliehen worden war? Benedikt und Regensburg verbindet eine lange Geschichte. Ende der Sechzigerjahre lehrte er - damals noch Joseph Ratzinger - viele Jahre als Theologie-Professor an der hiesigen Uni. Sein Wohnhaus in Pentling, einem Vorort von Regensburg, blieb auch nach der Papst-Wahl sein Wohnsitz in Deutschland. Sein Bruder Georg, der langjährige Domkapellmeister, lebte bis zu seinem Tod vor zwei Jahren in der Stadt. Benedikts erster Besuch in der Stadt als Papst war ein mediales Großereignis. Als Benedikt 2020 nochmal kam, unangekündigt, um seinen sterbenden Bruder ein letztes Mal zu sehen, hyperventilierten Teile der Presse. Kurz: Benedikt ist nicht irgendwer in Regensburg. Umso schmerzhafter gestaltet sich nun die Frage, ob er Ehrenbürger bleiben sollte. "Wir sind es den Opfern schuldig, dass wir uns mit der Thematik befassen", sagt Oberbürgermeisterin Maltz-Schwarzfischer. Sie habe den Stadtrat dazu aufgefordert, sich vertieft damit auseinanderzusetzen und wolle das auch selbst tun. Wann darüber abgestimmt wird, dafür gibt es noch keinen Zeitplan. "So eine Entscheidung kann man nicht einfach aus dem Ärmel schütteln."

Auf der Homepage der Mittelbayerischen Zeitung kann man darüber abstimmen. Stand Freitagmittag: 68 Prozent der Leser sind dafür, dass Benedikt Ehrenbürger bleiben soll. Auch Fritz Wallner sieht die Diskussion um den früheren Papst eher als Nebenschauplatz. "Wir hätten nichts davon, dem alten Mann das zu entziehen." Der Skandal um Benedikt, die Austrittswelle, das zeigt in den Augen Wallners nur, was seit Jahren im Bistum stattfindet: "Ein Auseinanderdriften zwischen dem Kirchen-Volk und Bischöfen wie Müller und Voderholzer, die mit ihrem Elefantentum alles kaputt machen." Ein Austritt aus der katholischen Kirche käme für ihn aber trotzdem nie in Frage. "Das ist unsere Kirche."

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