Prozessauftakt in Ansbach:"So nebeneinanderher gelebt"

Lesezeit: 3 min

Nach seinem Amoklauf ist Georg R. wegen versuchten Mordes in 47 Fällen angeklagt. Zum Prozessauftakt erklärt er seine Motive und sein neues Ziel: das Erlernen von Mitgefühl.

Hans Holzhaider, Ansbach

"Ein klarer, gerader Weg" - das ist eine gute Sache, könnte man meinen, aber in der Vorstellungswelt von Georg R. führte der gerade Weg direkt in die Katastrophe: Georg R., mittlerweile 19 Jahre alt, hat am 17. September 2009 mit einer Axt, vier Messern und fünf Molotowcocktails bewaffnet seine Mitschüler und Lehrer im Ansbacher Carolinum-Gymnasium angegriffen.

Prozessauftakt in Ansbach: Der Angeklagte erscheint vermummt im Gerichtssaal. (Foto: Foto: ddp)

Einem 15-jährigen Mädchen brachte er mit der Axt lebensgefährliche Kopfverletzungen bei, 14 andere Schüler und Lehrer wurden weniger schwer verletzt. Vor dem Landgericht Ansbach hat Georg R. sich jetzt ausführlich zu seiner Tat und seinen Motiven geäußert. Er habe sich schon seit seiner Kindheit ausgegrenzt und missachtet gefühlt, sagte er. Amokläufe hätten ihn fasziniert, weil er darin einen "klaren, geraden Weg" gesehen habe.

Das öffentliche Interesse am Prozess um den Amoklauf am Carolinum war außerordentlich groß, in den Zuschauerreihen im Gerichtssaal saßen neben den Journalisten viele junge Leute. Sie waren umsonst gekommen - noch bevor er die Personalien des Angeklagten feststellte, verkündete der Vorsitzende Richter Bernd Rösch den Beschluss, die Öffentlichkeit für die gesamte Dauer des Verfahrens auszuschließen. Erst die Urteilsverkündung soll wieder vor Publikum stattfinden. Der Schutz des Angeklagten vor Bloßstellung und mögliche Nachteile für seine persönliche, soziale und berufliche Entwicklung hätten Vorrang vor dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit, sagte der Richter.

Georg R. hatte, als er flankiert von zwei Polizeibeamten den Gerichtssaal betrat, die Kapuze seines Sweatshirts weit über den Kopf gezogen und sein Gesicht mit einem Schal und Sonnenbrille verhüllt. Erst als die Fotografen und Kameraleute den Saal verlassen hatten, legte er die Vermummung ab, verbarg sein Gesicht aber weiter hinter einem Aktenhefter.

Die Angaben zu Namen, Alter und Wohnsitz bestätigte er jeweils mit einem kurzen "ja". Die Verlesung der Anklage durch Staatsanwalt Jürgen Krach - versuchter Mord in 47 Fällen, Körperverletzung in 15 Fällen, zweimal versuchter Totschlag (das bezieht sich auf die beiden Polizeibeamten, die Georg R. nach seinem Amoklauf festnahmen) und versuchte schwere Brandstiftung - fand noch in öffentlicher Sitzung statt, dann mussten Journalisten und Zuhörer den Saal verlassen.

Was Georg R. über sein Leben und seine Tat ausgesagt hatte, erfuhren die Journalisten danach aus dem Mund von Thomas Koch, dem Pressesprecher des Oberlandesgerichts Nürnberg. "Er wirkte ruhig, auskunftsbereit, aber relativ wortkarg", sagte Koch. Der Angeklagte habe ein umfassendes Geständnis abgelegt, er habe auch eingeräumt, dass er möglichst viele Menschen töten wollte.

Nach der Tat habe er mehrere Versuche unternommen, sich das Leben zu nehmen - zuletzt habe er sogar versucht, sich mit einem Gürtel zu erdrosseln. Als das alles nicht gelang, sei er mit erhobenem Messer auf die Polizeibeamten losgegangen, die ihn in der Toilette, wo er sich versteckt hatte, entdeckten - nicht, um sie zu töten, sondern um selbst erschossen zu werden.

Schon im Kindergarten und in der Grundschule habe er sich von anderen Kindern ausgegrenzt gefühlt, berichtete R., in der 9. Klasse im Gymnasium habe er erstmals Selbstmordgedanken gehabt, weil er keinen Sinn mehr in seinem Leben gesehen habe. Er sei bei seinen Eltern zwar behütet aufgewachsen, aber seine Eltern seien keine Vertrauenspersonen für ihn gewesen. "Man hat so nebeneinanderher gelebt", sagte er. Georg R.s Eltern sind geschieden; er lebte zuletzt bei seinem Vater, der selbst psychisch krank ist.

Im April 2009 begann Georg R., ein Tagebuch an eine Person namens "Summer" zu schreiben. Das sei, sagte er jetzt, die amerikanische Schauspielerin Summer Glau, die in einer Fernsehserie eine Art Roboter darstelle und sich in dieser Rolle für ungewöhnliche Typen interessiere. Er habe gedacht, sie könne sich vielleicht auch für ihn interessieren.

Er habe Gewaltphantasien gehabt, die sich immer mehr steigerten. Er habe auch über Schusswaffen nachgedacht, aber keine Chance gesehen, eine zu bekommen. Er habe sich für sein Attentat gezielt den Tag ausgesucht, an dem der Leistungskurs eine Romreise antreten sollte - die wollte er auf keinen Fall mitmachen, weil er sich dann wieder als Außenseiter gefühlt hätte.

Den dritten Stock des Carolinums habe er sich als Tatort ausgewählt, weil er wusste, dass weder seine jüngere Schwester noch sein einziger Freund dort unterrichtet werden. Im Übrigen habe er es auf niemanden persönlich abgesehen gehabt.

Das Lebensrecht anderer sei ihm egal gewesen, er habe andere - allerdings auch sich selbst - nicht als lebenswerte Geschöpfe angesehen. Mitgefühl mit seinen Opfern habe er während seines Amoklaufs nicht empfunden. Auf die Frage, wie es jetzt damit stehe, verlas Georg R. eine vorgefertigte Erklärung: Aufgrund seiner Behandlung im Bezirkskrankenhaus sei er sich selbst lieber geworden, er fühle sich akzeptiert und im Kreis der Patienten integriert.

Er habe jetzt manchmal flashbacks, also kurze, blitzartige Erinnerungen, dann sei er erschrocken und empfinde Scham über seine Tat. Er sehe es als Ziel seiner Therapie an, Mitgefühl empfinden zu können.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: